Hungrig und voller Tatendrang - Gießener Anzeiger
28.09.2020

Premiere: Tanzmomente im Ausnahmezustand von Tarek Assam und Mitgliedern der Tanzcompagnie

Sie sind wieder da, agil, hungrig und voller Tatendrang. Die Mitglieder der Tanzcompagnie Gießen standen nach einer durch Covid-19 bedingten halbjährigen Zwangspause wieder auf der Bühne. Zum Auftakt bespielten drei Tänzerinnen und vier Tänzer die Studiobühne taT. Nur ein kleines Publikum war Corona-bedingt zugelassen, doch dieses versuchte am Ende der Premiere des Tanzstücks „Colours and Specials“ die fehlenden Zuschauer durch lebhaftes Klatschen zu ersetzen. Darüber freuten sich die Mitglieder des Ensembles sehr, strahlend nahmen sie den Beifall nach sieben Solo-Nummern entgegen.

Eine herausragende Tanzpräsentation gleich vornweg: Die bewährte Tänzerin Magdalena Stoyanova ist in einer ganz besonderen Solonummer zu erleben. Sie umtänzelt und flirtet mit einer kleinen Superman-Puppe und greift damit konkret das Thema Abstandsregeln auf. Ist es schon so weit gekommen, dass Tanzen nur noch mit einer Puppe möglich ist? Stoyanova macht das sehr geschickt. Sie verbindet die vorsichtige Annäherung in gleitenden Bewegungen mit der triumphalen Freude über die Eroberung, die aber unmittelbar von Verlustängsten durchbrochen wird. Ursprünglich stammt diese Szene aus „Don Juan“, Tarek Assam hat sie für den Soloabend unter dem Titel „Run with me“ neu konzipiert“.

Proben und Tanzaufführungen in größeren Gruppen sind bekanntermaßen derzeit kaum möglich. So haben die Tänzer mit ihrem Chefchoreographen Tarek Assam aus der Not gewissermaßen eine Tugend gemacht und einzelne kleine Solo-Stücke zusammengestellt. Statt der auf einen späteren Zeitpunkt verschobenen Wiederaufnahme des Tanzabends „Jagen“ präsentieren sie sich nun in einzelnen für sie charakteristischen solistischen Choreographien – entstanden aus dem weiterentwickeltem Repertoire und Improvisation. In seinen Begrüßungsworten verglich Dramaturg Johannes Bergmann das zeitgenössische Tanztheater mit einer Autobahn, die unterschiedlichste Abzweigungen aufweist in Richtung moderner Tanz, Jazztanz, Folklore, Hip-Hop und viele andere mehr.

Sieben Akteure, sieben Tanzstücke. Alle in unterschiedlichen Farbtönen, und doch alle Stücke fast wie aus einem Guss. Hoffnungsvoll suchende und kämpfende Menschen, die am Ende doch scheitern. Als Erstes stellt sich das neue Ensemblemitglied Giovanni Fumarola vor. Der Tänzer hat auch gemeinsam mit Tarek Assam die Choreographie zu seinem Tanzstück „And what?“ entworfen. Der Tänzer steht zunächst ganz ruhig auf der Bühne, dann setzten die Drums ein, erst leise, dann sich steigernd. Fumarola agiert wie ein Leistungssportler und muss doch bald abbrechen. Sphärische Klänge eröffnen die Darbietung von Chiara Zincone. Wunderbar gleichmäßige Tanzschritte werden unterbrochen durch zuckende Bewegungen. Jeder Versuch, dem Dilemma zu entkommen, scheitert. Gleidson Vigne tritt in Jeans auf, ein zuversichtlicher junger Mann, der optimistisch zum Himmel blickt. Doch dann ändert sich etwas, der Akteur flüchtet und wirft sich schließlich mit lautem Krachen auf den Rücken. Julie de Meulemeester stellt mit „Divergence“ eine Passage aus dem Tanzstück „Jagen“ vor. Zarte Klaviermusik, ein mädchenhaftes Kleid, harmonische, fließende Bewegungen. Man ahnt, dass dieser Zustand nicht andauern kann: Schon ist die Musik mit lautem Brummen unterlegt, die Tänzerin liegt auf dem Boden und versucht vergeblich, sich wieder hochzuziehen. Eine kraftvolle Choreographie präsentiert Michael D‘Ambrosio. Er wirbelt mit den Armen, als wolle er abheben, unternimmt hohe Sprünge, doch er ist zum Scheitern verurteilt, will sich am Ende gar umbringen. Als Letzter schließlich kommt Jeremy Curnier auf die Bühne, halb Mensch, halb Tier, das sich selbst in den Arm beißt. Da hilft auch der wohlklingende keltische Sound im Hintergrund nichts, ebenso wenig die akrobatischen Impulse. Auch dieser letzte Act kann keine Hoffnung signalisieren. So sind die Zeiten.


Ulla Hahn-Grimm, 28.09.2020, Gießener Anzeiger