LENZ: Ein Mann als personifizierte Krise auf der Bühne des taT - Gießener Anzeiger
04.12.2018

Christian Fries bringt Büchners Erzählung als Solostück auf die taT-Bühne: Ein Gespräch über Künstler, Krisen und nervende Typen

Ein Mann als personifizierte Krise: Die Erzählung "Lenz" fand sich im Nachlass Georg Büchners, erschien posthum im Jahr 1839 und wurde vielfach in der Literatur, für die Theaterbühne und den Film adaptiert. Es geht um Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), dessen Krankengeschichte Büchner in die Finger bekam und zu einer Erzählung verdichtete. Bei der Titelfigur handelt es sich um einen jungen, im Baltikum aufgewachsenen Schriftsteller, der unter Ängsten, Depressionen und Wahnvorstellungen leidet. Er kommt zu Beginn des Buchs in einem Pfarrhaus in einem abgelegenen elsässischen Gebirgsdorf unter, der dort lebende Pfarrer hilft ihm zwischenzeitlich, sich zu stabilisieren. Doch Lenz' Geisteszerrüttung ist nicht zu stoppen. Der in Gießen wohlbekannte Schauspieler Christian Fries bringt den Text nun auf die taT-Studiobühne (Premiere am Sonntag). Im Interview erklärt er, wie er das Stück inszeniert, was es mit diesem Mann auf sich hat - und welche Personengruppe besonders unter den Lenz'schen Symptomen leidet.

Herr Fries, wie sind Sie auf diesen Text gestoßen?

Ich habe ihn einfach aus dem Regal gezogen, weil ich etwas auswendig lernen wollte, und hatte ursprünglich auch nicht geplant, ein Stück daraus zu machen. Ich habe mich dann aber doch dazu entschieden, weil der Text seit der Schauspielschulzeit immer eine starke Anziehungskraft auf mich ausgeübt hat. Darin werden psychische Zustände beschrieben, die mich immer interessiert haben, die mir ein Stück weit auch nahe waren. Ich finde, das ist ein wichtiges Thema: Zwischen Pathologisierung und Bagatellisierung einen Weg zu finden, bei dem gezeigt wird, dass die Menschen sehr unterschiedlich drauf sein können.

Lenz ist immer wieder zum Thema gemacht worden, im Theater, im Film. Er ist doch ein Archetyp der deutschen Literatur, oder?

Lenz ist ein sensibler, labiler Künstler, der an bestimmten Dingen näher dran ist. Aber der, an dem was er erspürt, was er erfährt, auch scheitert, fast zerbricht. Und ein Hysteriker, der sich extrem in den Vordergrund spielt. Wenn man hinter den Vorhang guckt, der einen von der eigenen Innerlichkeit trennt, dann bekommt einem das unter Umständen nicht gut. Bei Lenz denkt man ja manchmal auch: Junge, komm mal runter. Was hast du eigentlich?! Wer Lenz aber wirklich war, das entzieht sich unserer Kenntnis. Ich glaube, dass Georg Büchner viel von sich selbst in diese Figur hineingepackt hat. Es ist eine Mischung aus Büchners eigener Identität und dem, was er von Lenz wusste sowie dem, was er als Mediziner an pathologischen Typen kannte.

Es gibt auch eine Menge Naturbeschreibungen in diesem Text. Wie bringen Sie die auf der Bühne rüber?

Die sind eher ein Hindernis (lacht). Das sind ja gleich am Anfang grammatikalisch hyperkomplexe Sätze. Einer davon geht über anderthalb Seiten.

Ich musste da gerade beim Lesen dreimal ansetzen.

Völlig normal. Das ist nicht ehrenrührig. Mein Ehrgeiz ist es, den Satz auf der Bühne so rüberzubringen, dass jeder kapiert, worum es geht. Ich versuche, etwa diese langen Gebirgsszenarien in Beziehung zu der Person zu setzen, die da durch die Landschaft wandelt.

Mir scheint, dieser Mann ist übersensibel, reagiert auf alle äußeren Reize extrem. Das ist wohl ein zeitloser Befund?

Der therapeutische Jargon heute wäre: Der Lenz hat keine Grenzen. Aber Entgrenzung ist gefährlich, ein Risiko, wie bei Drogen. Denn dabei geht die autonome Person verloren. Es gibt auch eine Abhängigkeit, die Lenz in der Geschichte stabilisiert. Er kommt in einer Krise in dem kleinen Ort im Elsass an, kommt dort durch diese beeindruckende Vaterfigur des Pfarrers zur Ruhe. Weil der ihn annimmt, wie er ist. Als der Pfarrer dann geht, zerfällt er.

Wie sieht das auf der Bühne aus: Sind Sie Lenz?

Nein. Das geht wegen der von Büchner gewählten Prosaform nicht. Der Text steht bei mir im Zentrum. Ich begebe mich wie in einen Tunnel und schaue, was dabei entsteht. Ich mache damit Erfahrungen - seit fünf Monaten inzwischen, seit ich angefangen habe, den Text zu lernen. Auf der Bühne versuche ich, ihn plastisch zu machen und den Zuschauern die Frage nahezubringen: Was ist mit diesem Menschen? Sind wir wohlberaten, wenn wir sagen: Das ist ein Irrer? Oder ist der uns, unbequemerweise, viel näher, als wir denken? So ist neben dem literarischen auch ein moralischer Anspruch mit von der Partie: Ich will für diese Art von menschlichen Zuständen sensibilisieren. Aber dabei keine Angst erzeugen, sondern klarmachen: So kann das gehen.

Sie tragen den gesamten Text vor?

Ja. Es gibt eine musikalisch-geräuschhafte Ebene, die ich auch selbst bediene. Eine abstrakte Bühne. Licht. Ein Mikro. So begebe ich mich auf eine Reise - und ihr seid dabei.

Es gibt sicher viele Leute, die Lenz in gewisser Weise nachfühlen können.

Genau. Die meisten denken da an ihre Jugendzeiten. Aber es gibt auch das typische Bild dessen, der in seinen 20ern den Dreh nicht kriegt. Das kenne ich auch daran erinnere ich mich sehr genau. Ich komme aus einer Lehrerfamilie, habe auf Lehramt studiert, wollte aber auf gar keinen Fall Lehrer werden und entdeckte dann: Du musst ja mit irgendetwas dein Geld verdienen. Ich war wirklich sehr verunsichert, um es vorsichtig zu sagen. Lenz ist im Buch 26 Jahre alt. Bis er 21 war, hat er Theologie studiert, er wirft sich dann in die Künstlerkreise Straßburgs, kommt aber mit seinen Schriften nicht sehr weit - und sieht sich abschiffen. Das erlebe ich bei vielen Leuten von Mitte 20: Das, worauf sie gesetzt hatten, ist es nicht. So entsteht ein Krisenmoment. Oder die Krise kommt mit 40, wenn die Leute denken: O Gott, was habe ich da gemacht!

Es geht nicht ohne Krise.

Das sowieso nicht (lacht).

Es wird aber auch Zuschauer geben, die sagen: Der Typ nervt.

Ja, klar. Aber der Nervfaktor, den solche Typen haben, steht in einem enormen Missverhältnis zu der Not, in der sie sich befinden. Und das wird in diesem Text sehr anschaulich gezeigt.


Björn Gauges, 04.12.2018, Gießener Anzeiger