Schon im "Ach" steckt alles drin - Gießener Anzeiger
28.09.2020

Das Kabarettistenduo Michael Quast und Philipp Mosetter glänzt mit seiner Version des Goethe-Klasskers im Gießener Stadttheater.

Zu Goethes "Faust" hat jeder einen anderen Zugang. Zwei gänzlich unterschiedliche trafen am Freitagabend im ausverkauften Stadttheater aufeinander. Auf der einen, rechten Bühnenseite Michael Quast: quietschfidel und voller Tatendrang, die berühmten Szenen im Schauspielsolo aufzuführen. Auf der anderen, linken Seite Philipp Mosetter, ein staubtrockener Theoretiker, der in der Lage ist, jede Zeile und jeden Vers der Vorlage mit vermeintlich tiefgründigen Querverweisen zu versehen. Willkommen bei einem kabarettistischen Dauerbrenner, der auch 21 Jahre nach seiner Frankfurter Uraufführung nichts von seinem geistreichen Witz verloren hat: "Goethe: Faust I - Kommentierte Darbietung".

So sitzen die beiden Antipoden mit ihren zerlesenen gelben Reclam-Bändchen an ihren kleinen Lesetischen, und Quast, motiviert bis in die lichten Haarspitzen, beginnt mit Verve, den ersten Monolog Fausts zu deklamieren. Doch halt! Goethes berühmter Titelheld hat bereits 75 Lebensjahre auf dem krummen Buckel. Also bitte "älter!", fordert Mosetter seinen Bühnenpartner auf, die Stimme entsprechend zu modulieren. Quast müht sich redlich, dem stirnrunzelnden Beckmesser an seiner Seite reicht das alles aber bei Weitem nicht. Der Rezitator setzt also immer wieder aufs Neue an, den richtigen Ton zu treffen. Doch auch wenn man irgendwann denkt, älter geht es nun wirklich nicht mehr, bleibt Mosetter unerbittlich: "Noch älter!". So wird der famose Schauspielerirrwisch schließlich zum zittrigen, zahnlosen Greis, dem sich fortan die schwankenden Gestalten, der Teufel und das Gretchen nahen.

Bei dieser faustischen Aufgaben- und Rollenverteilung bleibt es auch in den kommenden ungemein kurzweiligen 90 Spielminuten. Mosetter fordert, Quast muss liefern. So arbeitet sich dieses perfekt aufeinander eingestimmte Duo von Szene zu Szene: vom Osterspaziergang über die Hexenküche und Gretchens Stube bis zur Walpurgisnacht. Und so gewinnen die beiden Kabarettisten einem der berühmtesten Bücher deutscher Sprache auf ihre ganz eigene Weise jede Menge überraschende Seiten ab.

Das beginnt schon mit der Interpretation eines frühen "Ach", das für Mosetter den Inhalt des Stücks bereits vorwegnimmt. Denn "da steckt eigentlich schon alles drin". Wieder ist der Rezitator also gefordert, die richtige Tonlage zu finden und damit das Unmögliche möglich zu machen - was am Ende natürlich perfekt gelingt.

Ein Meisterstück liefert Quast, seit vielen Jahren auch Intendant und Spiritus Rector der Frankfurter Volksbühne, mit der Szene in der Hexenküche. Da spricht er im ständigen Wechsel mit den Stimmen Fausts, des als Kasperle-Figur auftretenden Teufels sowie der Hexe, die schließlich sogar lautmalerisch mit dem Besen über die Bühne fegt. Noch ein Höhepunkt: Gretchens Blues. Mosetter leidet als schmachtend deklamierende Liebende, sein Bühnenpartner liefert dazu die akustische Untermalung, er imitiert Mundharmonika, Schlagzeugbesen und Posaune. Überhaupt: die Akustik. Michael Quast versteht sich blendend auf Lautmalereien, die er immer wieder gewinnbringend einsetzt. Mal skizziert er auf diese Weise eine Naturszene, mal lässt er so die Hexenküche brodeln.

Mosetter hingegen bleibt stets ein Mann der spröden Sachlichkeit. Ob er eine Goethe-Szene mit einem Fußballspiel aus lange vergangenen Schülertagen kurzschließt oder vermeintliche Bezüge zur Quantenphysik und Heisenbergs Unschärferelation darlegt. So gelingt den beiden Kabarettisten das famose Kunststück, den Klassiker "Faust I" in gerade einmal 90 Minuten so auf die Bühne zu bringen, dass man am Ende das Gefühl hat, einer kompletten Inszenierung beigewohnt zu haben.

Apropos Ende: Warum das Stück kein Happy End bieten kann, weiß Mosetter auch noch zu berichten. Dann würden Faust und Gretchen heute in einem Reihenhaus in Watzenborn-Steinberg leben. "Aber wen würde das noch interessieren?!"


Björn Gauges, 28.09.2020, Gießener Anzeiger