Tanzcompagnie Gießen tanzt nach dem Lockdown - Gießener Allgemeine Zeitung
27.09.2020

»Colours & Specials« von Tarek Assam und Mitgliedern der Tanzcompagnie Gießen zeigt sieben Solos und trotzt so der Pandemie.

Der Corona-Lockdown hat alle Tänzerinnen und Tänzer hart getroffen. Seit Mitte März war auch für die Mitglieder der Tanzcompagnie Gießen kein gemeinsames Training im Ballettsaal mehr möglich. Erst Anfang September durften sie wieder gemeinsam proben, allerdings unter verschärften Bedingungen wie etwa regelmäßigen Rachenabstrichen. Die geplanten Wiederaufnahmen aus der letzten Spielzeit funktionieren dennoch nicht, wegen der gebotenen Abstandsregel. So ist es derzeit nicht möglich, das atmosphärisch dichte Stück »Jagen« von Olga Labovkina wieder einzustudieren. Daher gilt: Aus der Not eine Tugend machen.

Sieben Solos, bis zu sieben Tänzer

Ballettdirektor Tarek Assam und Mitglieder der Tanzcompagnie (TCG) kreierten Solo-Stücke, die teils ganz neu sind, teils eine Weiterentwicklung einzelner Szenen aus bisherigen Stücken darstellen. Dadurch lassen sich die neuen TCG-Mitglieder gut einbinden. Das Publikum hat zudem den Vorteil, die einzelnen Tänzer in ihrem individuellen Bewegungsduktus besser wahrzunehmen.

Bekannte Elemente wiederzuerkennen, das ist für treue Tanzfans ein zusätzliches Vergnügen, aber nicht notwendig, um die ersten Tanzabende auf der taT-Studiobühne genießen zu können. Unter dem Überbegriff »Colours & Specials« sind es jeweils unterschiedliche Zusammensetzungen, bei denen jeweils maximal sieben Tänzerinnen und Tänzer auftreten.

Bei der Premiere am Freitagabend waren sieben Solos zu erleben. Aus »Jagen« zeigte Julie de Meulemeester ein fragil wirkendes Stück, in dem es um das Balance-Finden ging. Ihre Bewegungen liegen dabei oft weit außerhalb des Körperschwerpunkts. Gleidson Vigne hat einen Part aus der letztjährigen Site-Specific auf dem Hubschrauberlandeplatz des Johanniter-Stützpunkts gewählt (Choreografie Lucyna Zwolinska). Losgelöst von der Umgebung und den Tanzkollegen wirkt es wie eine schmerzhafte Körpererfahrung, die von Verletzung und Erschöpfung geprägt ist.

Chiara Zincone demonstriert zu treibendem Rhythmus Möglichkeiten, sich vom Boden wieder in die Vertikale zu bringen, das nach oben streben in geschmeidigen Bewegungen war ein Moment aus Don Juan (Tarek Assam, Premiere im Februar 2020). Magdalena Stoyanova bringt die männliche Puppe Don Juan zum Tanzen, amüsiert sich in ihrer souveränen Körpersprache. Ihr Part ist das einzige Stück dieses Abends, das eine gewisse Leichtigkeit hat. Alle anderen Tanzsoli sind, mitgeprägt durch die gewählten Musiken, eher bedrückend und schwermütig.

Auch die Weiterentwicklung des Don Juan-Solos von Jeremy Curnier in der markanten Hose mit den behaarten Waden gehört dazu. Das triebgesteuerte, bocksbeinige Wesen wirkt so allein noch verzweifelter als in der Gruppe.

Zwei weitere Vorstellungen

Ein neues Stück hat Assam gemeinsam mit und für Michael D’Ambrosio geschaffen. Auch hier geht es darum, vom Vierfüßlerstand wieder in die aufrechte Position zu kommen, die umgebende Natur mit ausgestreckten Armen (über die Distanz) räumlich zu erkunden; und das Erspüren bewusstmachen mit dem fiktiven Rieseln von Sand durch die Hände.

Ebenfalls neu war das erste Stück dieses Premierenabends (Choreografie Assam), in dem der Neuzugang Giovanni Fumarola einen beeindruckenden Einstand gab. Zunächst auf der Stelle stehend, nur mit dem Oberkörper agierend, scheint sein Körper völlig von der stark rhythmischen Musik erfasst und angetrieben zu sein. Daraus wird ein erstaunlicher Wechsel von kleinsten Muskelbewegungen hin zu großen Sprüngen.

Auch wenn der Abend nicht die Dynamik und Atmosphäre einer durchorganisierten Stücks hat, so ist es ein wichtiger Anfang für die Tänzerinnen und Tänzer, und eine Freude für das Publikum ihnen wieder zu begegnen.


Dagmar Klein, Gießener Allgemeine Zeitung, 27.09.2020