Von Gott und der Welt ver­las­sen - Gießener Anzeiger
11.12.2018

Muss man ge­hört ha­ben: Chris­ti­an Fries über­zeugt und ver­blüfft mit sei­nem Büch­ner-So­lo „Lenz“ auf der taT-stu­dio­büh­ne

Es gibt Tex­te, die wie für die Büh­ne ge­macht er­schei­nen – wenn man sie denn ein­mal ge­spro­chen er­le­ben kann. Chris­ti­an Fries zeigt nun in Gie­ßen, dass Georg Büch­ners be­rühmt­e Er­zäh­lung „Lenz“ zu die­ser Text­gat­tung ge­hört. Mit sei­ner So­lo-Per­for­man­ce fei­er­te der Schau­spie­ler und Re­gis­seur am Sonn­tag­abend ei­ne so kon­zen­trier­te wie über­zeu­gen­de Pre­mie­re auf der taT-Stu­dio­büh­ne.

Schwar­ze Wän­de, ein Mi­kro­fon, ein (un­be­nutz­ter) Ses­sel, ei­ne na­he­zu nack­te Büh­ne: Der in T-Shirt und Je­ans auf­tre­ten­de Chris­ti­an Fries ver­lässt sich auf die Kraft des von ihm ge­spro­che­nen Wor­tes – und die da­raus ent­ste­hen­den Bil­der in den Köp­fen sei­nes Pu­bli­kums. Nur ei­ne klei­ne Pfei­fe dient ihm da­zu, den knapp 90-mi­nü­ti­gen Abend mit kur­zen im­pro­vi­sier­ten Zwi­schen­stü­cken zu struk­tu­rie­ren und gleich­zei­tig das zer­rüt­te­te See­len­le­ben sei­ner Ti­tel­fi­gur in zu­meist dis­so­nan­te Tö­ne zu über­set­zen.

Es geht um den jun­gen Sturm-und-Drang-Dich­ter Ja­kob Lenz, der im Jahr 1778 als Wan­de­rer in den Vo­ge­sen un­ter­wegs ist, wo er für ei­ni­ge Wo­chen bei dem so­zi­al en­ga­gier­ten Pfar­rer Ober­lin un­ter­kommt. Der Gast­ge­ber fer­tig­te spä­ter Auf­zeich­nun­gen zu die­ser Be­geg­nung an, die Georg Büch­ner (1813 – 1837) in die Fin­ger be­kam und für ei­ne Er­zäh­lung nutz­te. Das Text­frag­ment fand sich im Nach­lass des Schrift­stel­lers und wird bis heu­te im­mer wie­der auf den Thea­ter­büh­nen und im Film adap­tiert.

Büch­ner schil­dert da­rin ei­nen ein­sa­men, an sich und der Welt ver­zwei­feln­den jun­gen Mann, des­sen Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten zu­neh­mend be­sorg­nis­er­re­gen­de Zü­ge an­neh­men. Er stürzt sich nachts in kal­tes Brun­nen­was­ser, er­liegt re­li­giö­sen Wahn­vor­stel­lun­gen und glaubt schließ­lich so­gar, ein an ei­ner Krank­heit ge­stor­be­nes Mäd­chen wie­der­be­le­ben zu kön­nen. Pfar­rer Ober­lin küm­mert sich rüh­rend um die­sen emp­find­sa­men jun­gen Mann, ist aber den­noch nicht in der La­ge, ihn aus sei­ner See­len­pein zu be­frei­en.

Da­von han­delt Büch­ners Pro­sa­frag­ment, das Chris­ti­an Fries oh­ne Kür­zun­gen im taT vor­trägt. Und sein Auf­tritt sorgt für ei­ne ver­blüf­fen­de Wir­kung. Büch­ners Er­zäh­lung ist mit ih­ren kom­ple­xen, ver­schach­tel­ten Satz­struk­tu­ren, den Lenz’ Ge­müts­ver­fins­te­rung spiegeln­de Na­tur­schil­de­run­gen und vor al­lem dem mäch­ti­gen, wie un­ge­zü­gel­ten Wort­strom durch­aus kei­ne ein­gän­gi­ge Lek­tü­re. Doch in­dem Fries auf der Büh­ne die Sze­ne­rien um­schreibt, die ver­schie­de­nen Stim­men ord­nend un­ter­schei­det und vor al­lem den in­ne­ren Mo­no­log des lei­den­den jun­gen Man­nes in ei­ne prä­zi­se klang­li­che Form bringt, er­laubt er dem Pu­bli­kum ei­nen in­ten­si­ven Zu­gang zu die­sem be­deu­ten­den Text zu be­kom­men. Und so wird es viel ein­fa­cher, Lenz und sei­nen Wahn­vor­stel­lun­gen zu fol­gen, auch die sel­te­nen ko­mi­schen Stel­len zu er­fas­sen und gleich­zei­tig die gan­ze Tra­gik die­ses trau­ri­gen Schick­sals zu er­fas­sen.

„Lenz“ ist die Ge­schich­te ei­nes Man­nes, der sich von Gott und der Welt ver­las­sen glaubt. Und auch wenn über man­che Sze­ne­rien die­ser rund 200 Jah­re al­ten Ge­schich­te die Zeit hin­weg­ge­gan­gen ist, so be­hält die Dar­stel­lung ei­nes durchs Le­ben tau­meln­den, an sei­nem Über­emp­fin­den zu­grun­de ge­hen­den Men­schen doch zeit­lo­se Ak­tua­li­tät. Die Kunst von Chris­ti­an Fries ist es, die­ses Phä­no­men an­schau­lich hör- und sicht­bar zu ma­chen.


Björn Gauges, 11.12.2018, Gießener Anzeiger