Wenn alles auf den Tisch kommt - Gießener Anzeiger
14.10.2019

Tempo, Witz und dunkle Flecken: Gesellschaftskomödie „Der Vorname“ feierte Premiere im Gießener Stadttheater

Die moderne Gesellschaftskomödie hat das Abendessen unter Freunden zum festen Bestandteil ihres dramaturgischen Programms gemacht. Hier kommen die gut situierten, gebildeten, meist linksliberalen Großstadtbürger zusammen, um bei ausgesuchten Speisen den eigenen Lebensstil zu feiern und sich bei niveauvoller Konversation ihrer selbst zu vergewissern – bis die Sache aus unterschiedlichen Gründen aus dem Ruder läuft. Grund für aufkommenden Streit, zunehmenden Kontrollverlust und den daraus resultierenden Witz ist in diesem Fall „Der Vorname“, ein großer französischer Theatererfolg aus dem Jahr 2010, dessen Inszenierung von Stadttheater-Intendantin Cathérine Miville am Samstagabend im Großen Haus Premiere feierte und nach rund 90 rasanten Minuten mit lang anhaltendem Applaus gefeiert wurde.

Die Geschichte aus der Feder von Matthieu Delaporte und Alexandre de La Patellière, im vergangenen Jahr von Sönke Wortmann fürs Kino verfilmt, bietet einige archetypische Figuren auf, wie man sie etwa von den Erfolgsdramatikern Yasmina Reza („Der Gott des Gemetzels“) oder Lutz Hübner („Frau Müller muss weg“) kennt. Das Gastgeber-Ehepaar besteht aus einem hochgebildeten, prinzipientreuen Romanistik-Professor (Roman Kurtz), der an der Justus-Liebig-Universität lehrt, seiner harmoniesüchtigen Ehefrau Elisabeth (Carolin Weber), deren als Immobilien-Unternehmer zu Erfolg gekommenem Bruder Vincent (Tom Wild) und dessen schwangeren, einige Jahre jüngeren Freundin Anna (Anne-Elise Minetti) sowie dem langjährigen Familienfreund René, einem sympathischen, aber auch etwas blassen Orchestermusiker.

Regisseurin Miville hat die Geschichte aus Paris nach Gießen verlegt, was angesichts des Figurenpersonals problemlos möglich war und auch perfekt in einer geschmackvoll eingerichteten Altbauwohnung (Bühne und Kostüme: Lukas Noll, Monika Gora, Ya-Ting Chang) im Schlachthofviertel („früher nur etwas für Junkies und Touristen“) passt. So sitzt die Gruppe nun also am Esstisch vor einer mächtigen Bücherwand, als ihr Vincent eröffnet wie sein zukünftiger Stammhalter denn nun heißen soll: Adolphe. Nicht wie Hitler also, aber eben doch fast. Was die anderen zunächst für einen der üblichen, zu grellen Scherze ihres Freundes halten, wird von ihm allerdings hartnäckig und rhetorisch durchaus geschickt verteidigt. Tom Wild hat sichtlich Spaß daran, diesem Charakter Gestalt zu verleihen. Er spielt genussvoll mit dem Widerwillen seiner Gegenüber, vor allem weil sein alter Freund Peter sich schon bald nicht mehr im Griff hat und Vincent aggressiv angeht. Doch diesmal ist der Scherzbold, wie sich nach etwa der Hälfte des Abends herausstellt, eindeutig zu weit gegangen. Sein Spiel mit dem Vornamen führt dazu, dass plötzlich ganz andere Themen auf den Tisch kommen und die sich dort aneinanderreihenden Speisen erkalten lassen. Es geht um Vorurteile, Verletzungen und schließlich um ein völlig unvorhergesehenes Geständnis, das den geplanten Rahmen eines Abendessens unter Freunden vollends sprengt.

So schnurrt dieses Stück wie ein perfektes mechanisches Uhrwerk über die Bühne. Die fünf langjährigen Mitglieder des Gießener Schauspielensembles präsentieren sich ausnahmslos in glänzender Form. Sie nähern sich einander und stoßen sich voneinander ab, beweisen ein enormes Gespür für Timing und einen unlauteren Witz, zeigen ein gutes Gespür für Rhythmus- und Temperaturwechsel, Höhen und Tiefen ihrer Figuren. Bündnisse schließen sich und lösen sich schon bald wieder auf. Irgendwie kämpft hier plötzlich jeder gegen jeden – und die Zuschauer müssen ihre Sympathien immer wieder neu verteilen. So schaut man den Schauspielern einfach gerne dabei zu, wie sie alle unfreiwillig ihre bösen kleinen Geheimnisse verraten und feststellen, dass Ehrlichkeit ausgesprochen schmerzhaft sein kann. Als Zuschauer nimmt man nach diesem sehr unterhaltsamen, sehr witzigen Abend mit nach Hause, dass man zu diesem Abendessen glücklicherweise nicht selbst eingeladen war – und trotzdem dabei sein durfte.


Björn Gauges, 14.10.2019, Gießener Anzeiger