Zwischen Wahn und Realität - Gießener Anzeiger
09.03.2020

Die Inszenierung des David Bowie-Musicals am Stadttheater in Gießen erwies sich als bildstark und detailreich und bot zahlreiche bekannte Hits des zu früh verstorbenen Weltstars.

Es endet so, wie es auch begonnen hat: mit dem Übertritt von der einen Welt in eine andere im gleißenden, alles beherrschenden Licht des Raketentriebwerks. Thomas Newton, alias David Bowie, alias Ziggy Stardust, alias Thin White Duke nimmt Abschied - in Form einer Auferstehung. "Lazarus" hat David Bowie sein Musical genannt, dessen Uraufführung er kurz vor seinem Tod Anfang 2016 noch erleben konnte und das seitdem mit großem Erfolg an zahlreichen Theatern auf der ganzen Welt gespielt worden ist. Nun hat sich auch das Gießener Stadttheater dieser Herausforderung angenommen. Regisseurin Katharina Ramser inszeniert das Musical bildstark, detailreich und vielschichtig als Gratwanderung zwischen intimer, einsamer Privatheit und großer Show, zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Wahn und Realität. Premiere war am Samstag.

Spiel mit dem Uneindeutigen

Wer David Bowie kennt, weiß, dass es diesem Künstler um Eindeutigkeit und bruchlose oder gar vermeintlich authentische Erzählungen nie ging. Als Musiker und als Schauspieler suchte er das Spiel mit dem Uneindeutigen, dem Transgressiven, der Übergängigkeit, im Wechsel der verschiedenen Personas, im Wechsel der musikalischen Stile. Bis zu seinem Lebensende ließ er im Vagen, wo wirklich vielleicht Berührungspunkte zwischen seiner realen Person und seinen Figuren lagen. Sein letztes Musikvideo mit dem Song "Lazarus", der auch das Musical eröffnet, zeigte ihn selbst sterbenskrank - erst hier fielen, im Tod, Künstler und Privatperson endgültig zusammen.

Der Offenheit von Bowies Kunst insgesamt entspricht der nur lose durch eine Erzählung zusammengehaltene, stark assoziative Verlauf des Musicals: Die Handlung knüpft an den Film "The man who fell to earth" von 1976 an, in dem Bowie einen Außerirdischen namens Newton verkörperte, der auf der Erde in seiner Liebe zu Mary-Lou, aber auch in seinem Bemühen, eine Rakete für die Rückkehr zu bauen, an der Rücksichtslosigkeit und Gewalttätigkeit der Menschen scheitert. Dreißig Jahre später - hier setzt das Musical ein - ist der Popstar zum Alkoholiker heruntergekommen, der weiter, einsam in seinem Luxusapartment, von der Rakete und von seiner alten Liebe träumt. Seine persönliche Assistentin Elly verliebt sich zunehmend in ihn; ein außerirdisches Mädchen ohne Erinnerung an den eigenen Namen will beim Raketenbau helfen, weitere Figuren aus Newtons Erinnerung lassen die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen. Assoziativ verbindet sich das mit Songs aus ganz unterschiedlichen Schaffensphasen Bowies, überwiegend aber aus den 70ern und den 2010er Jahren.

Ramser spielt mit der Ambivalenz der Figuren als gleichsam konkret Handelnde in einem Stück und ihrer Funktion als Abspaltungen und Erinnerungen der Person Newtons (gespielt und gesungen von David Moorbach). Valentine (Stephan Hirschpointner) als Verkörperung des gleichnamigen Songs changiert in einem überwältigenden schwarzen Glamour-Kostüm (überhaupt sind die Kostüme von Michael Böhler allesamt großartig) zwischen Diabolus und Todesengel. Ein Freund namens Michael (Pascal Thomas) schlüpft in die Ziggy Stardust-Maske, Elly (Anne-Elise Minetti) verwandelt sich zunehmend in Mary Lou. Das Mädchen (Esra Schreier) wird schließlich, als eindeutige Wahn- oder Wunschfigur, diejenige sein, die den Protagonisten bis zum Ziel begleitet: der Freiheit in Form des Abschieds.

Videoprojektionen (Tom Bernhard) von teils buchstäblich schwindelerregender Qualität fügen in Verbindung mit dem Bühnenbild (ebenfalls Böhler), das mit seinen beweglichen, konzentrischen Kreisen mal wie ein Fernrohr, mal wie eine Brunnenröhre wirkt, eine dritte Ebene hinzu, nämlich die des ganz jenseits der Show liegenden Alltags der Handelnden als Privatpersonen (Thomas Wild tritt im gemütlichen Kapuzenpulli auf).

Küssende Pärchen gefilmt

Da kommen auch die am Berliner Platz eigens gefilmten küssenden Pärchen zu Ehren, nämlich zum Titel "Love is lost" - auffallend unpassend zu Bowies konsequenten Geschlechter-Überschreitungen allerdings ausschließlich in heteronormativen Konstellationen.

Insgesamt fünfzehn Songs von Bowie werden gespielt, die Band (Leitung: Christian Keul) macht das astrein, sowohl beim Gefühligen als auch in den rockigeren Teilen. Auch der Gesang passt im Großen und Ganzen. Vor allem Minettis Leistung als Sängerin darf hervorgehoben werden - mit ihrer Interpretation von "Changes" lockte sie das Publikum erstmals an dem Abend ernsthaft aus der Reserve. Musikalisch und szenisch verbindend agierten überdies drei Damen (Karoline Blöcher, Anna Prokop und Elisabeth-Marie Leistikow) als stets stilechte Background-Vocals. Dass man sich trotzdem insgesamt nicht besonders mitgerissen fühlte, lag durchaus wohl auch am Stück selbst, das trotz der vielen Inszenierungsideen etwas statisch bleibt. Das können dann auch die Hits nicht ganz ausgleichen, deren wohl berühmtester die Schlussszene begleitet: "Heroes".

Wie dieser Schluss gemeint ist, muss bei Bowie natürlich offenbleiben: Das Spiel mit religiösen Figuren gehörte bei ihm immer dazu - bis hin eben zur Anspielung auf den Erlöser und den zum Leben wieder erweckten Lazarus, dessen jenseitige Sternenwelt, zu der er schließlich aufbricht, vielleicht doch weiter die irdische ist: die der Show.


Karsten Mackensen, 09.03.2020, Gießener Anzeiger