Das Leben im Netz: Tanzabend »Smart Reality« im taT - Gießener Allgemeine Zeitung

21.12.2014

Die jüngste Choreografie von Ballettchef Tarek Assam und Mitchoreograf Robert Przybyl hinterfragt auf originelle Weise die virtuelle Welt und unseren Umgang damit.


Wer vor dem Computer sitzt, bewegt meist nur die Finger auf der Tastatur. Und wer sein Smartphone bedient, der streichelt mit minimalen Bewegungen über den kleinen Bildschirm. Kann man einen einstündigen Tanzabend füllen, wenn man das zum Thema macht? Ja, man kann, wie die neueste Tanzproduktion von Ballettchef Tarek Assam und Mitchoreograf Robert Przybyl auf der taT-Studiobühne zeigt. Am Freitagabend war umjubelte Premiere von »Smart Reality«.

Im von Bernhard Niechotz entworfenen Bühnenbild bewegen sich die sechs Mitglieder der Tanzcompagnie Gießen – Caitlin-Rae Crook, Agnieszka Jachym, Yuki Kobayashi, Kristina Norri, Sven Krautwurst und Michael Bronszkowski – im hektischen Rhythmus des Computerzeitalters. Fahriges Zucken zeigt sie als Getriebene, die von den cleveren Maschinen gänzlich in Bann gezogen sind. Auch wer am Rand pausiert, kommt nicht zur Ruhe. Den Blick fest auf die Handflächen mit dem imaginären Smartphone gerichtet, wird fast manisch gestreichelt und geklopft. Doch die Finger berühren eben keinen Menschen, sondern das kleine Gerät, das den Alltag des Users bestimmt. Sven Krautwurst wird als fanatischer Computerspieler zum virtuellen Killer, Kristina Norri muss zugeben, dass ihr Facebook-Profil der Wirklichkeit nicht Stand hält, und Caitlin-Rae Crook kann im narzistischen Selfie-Wahn ihren Blick einfach nicht mehr vom eigenen Abbild auf dem Dutzend Fernsehschirme am Bühnenrand lassen. Auch das Navigationsgerät, das aus dem Off schon mal fragt »Was wollen sie eigentlich in Gießen?«, hat die Menschen fest im Griff. Und wenn kein Zugriff auf Google Maps möglich ist, dann treffen sich die miteinander Verabredeten eben nicht.

Dass die Choreografie hier auf in Englisch gesprochene und auf drei Sonnensegel projizierte Kurznachrichten zurückgreift, macht Sinn und den Abend zum kurzweiligen Ereignis. Getanzt wird zur Musik von Greg Haines, Metronomy, Thomas Newman und Orbital. Indietronic, Elektropop und immer wieder das Festhängen in enervierenden Melodie-Loops treiben die Tänzer an. Deren Bewegungen wirken oft, als habe eine fremde Macht die Repeat-Taste gedrückt. Die virtuelle Welt hat sie ausgebremst.

Das Smartphone ist das Goldene Kalb, um das die Tänzer herumwirbeln und wenn einmal zwei oder drei zusammenkommen, dann gibt es nur belanglose Kurznachrichten-Dialoge oder oberflächliche Begegnungen. Blickkontakt wird mit leerem Gesichtsausdruck vermieden. Erst als der Akku leer und die Musik im pulsierenden Herzschlag endet, ist die Zeit für Berührungen zwischen zwei Menschen gekommen. Doch auch die sind quasi nur als Videoprojektion auf den Stoffbahnen zu erkennen. Der Mensch in der »Smart Reality« – ihm ist das wirkliche Menschsein fast schon abhanden gekommen. Unser aller Umgang mit den fiktiven Realitäten und deren Communities hinterfragt »Smart Reality«: klug, unterhaltsam und mit einprägsamen Bildern. Zuschauen lohnt sich.

Karola Schepp, 21.12.2014, Gießener Allgemeine Zeitung