Donizetti-Oper „Linda di Chamounix“ in Gießen mit minutenlangem Beifall gefeiert - Gießener Anzeiger

02.02.2015

Blitze zucken, das mit Eisblumen übersäte Fenster fliegt mit einem lauten Knall auf. Kalte Winterluft strömt herein, und trockenes Laub wirbelt durch die Luft. Während das Gewitter draußen tobt, feiert drinnen im Saal die versammelte Dorfgemeinschaft bei fahlem Licht einen Abschiedsgottesdienst. Hätte Ludwig Ganghofer oder ein anderer alpenländischer Bauerndichter das Melodram „Linda di Chamounix“ geschrieben, dann müsste es genau in dieser Kulisse wie im Gießener Stadttheater spielen. In der Inszenierung von Hans Walter Richter ist Gaetano Donizettis Belcanto-Oper als opulentes naturalistisches Schaustück zu erleben. Und wie nicht anders zu erwarten, lässt Donizettis liebliche, schwelgerische und zuweilen auch rührselige Musik das Publikum dahin schmelzen. Dafür sorgt das versiert und facettenreich musizierende Philharmonische Orchester unter der Leitung von Florian Ziemen, der das Ganze mit Schwung am Laufen hält.

Voll besetzt bis unter die oberen Ränge war der Zuschauersaal im Stadttheater, als die in Deutschland seit über hundert Jahren nicht mehr aufgeführte Oper am Samstagabend Premiere hatte. Und nach dem Bühnengewitter zuvor brach nach dreistündiger Aufführung (mit Pause) ein wahrer Orkan los: Minutenlang feierten die Premierenbesucher alle an dieser Produktion Beteiligten mit überschwänglichem Applaus, in den sich freilich, als der Regisseur an die Rampe trat, auch einige Buhrufe mischten. Bejubelt wurden aber vor allem die Gesangssolisten, die dem Abend mit ihren prachtvollen Stimmen die Krone aufsetzten.

Das schöne Mädchen Linda lebt bei ihren Eltern in dem armen Bergdorf Chamounix. Lindas Schönheit fällt auch dem Marchese di Boisfleury auf, der ihr nachstellt und sie zu seiner Geliebten machen möchte. Doch die Eltern durchkreuzen die Pläne des adeligen Lüstlings und schicken ihre Tochter nach Paris. Dort lebt sie nun in der luxuriösen Wohnung ihres Geliebten Carlo, eines Neffen des Marchese. Als Carlo eine andere heiratet, wird Linda wahnsinnig. Ihr Wahnsinn wird aber wieder geheilt, als sie in ihr Heimatdorf zurückkehrt und Carlo – nun wieder frei – sein Heiratsversprechen einlöst.

Einigermaßen plausibel

Erzählt wird die kitschige Groschenromangeschichte von der Unschuld vom Lande, die einen Adeligen liebt, dem Wahnsinn verfällt und letztlich doch gerettet wird. Das schwache Libretto mit all seinen Ungereimtheiten und Brüchen stellt jeden Regisseur vor die schier unlösbare Aufgabe, die Handlung einigermaßen plausibel zu erklären. Hans Walter Richter ist dies im Großen und Ganzen recht gut gelungen, indem er die um 1760 spielende Handlung ins ausgehende 19. Jahrhundert verlegt und uns ein ebenso stimmungsvolles wie kritisches Genrebild aus dem Leben der armen Bergbevölkerung zeigt. So fügt er der Handlung eine Episode hinzu, die davon handelt, dass Kinder und Jugendliche zum Arbeiten in die Stadt geschickt wurden. Und er gibt eine weitere Erklärung für Lindas Bedrängnis, indem er ihr eine ungewollte Schwangerschaft samt Fehlgeburt auf den Leib schreibt. In der Personenführung spürt man, dass er die Figuren ernst nimmt, ihre Beweggründe zu verstehen versucht und somit die Konflikte deutlich werden lässt.

Ein Prädikat mit Auszeichnung verdient Bühnen- und Kostümbildner Bernhard Niechotz, der mit viel Holz und Liebe zum Detail einen Versammlungssaal geschaffen hat, in dem die arme, frömmelnde Dorfgemeinschaft zusammenkommt. Es gibt schwere, hohe Türen, eine Balustrade, Geweihe, gerahmte Fotografien und Urkunden an den Wänden, zahlreiche Stühle und ein Harmonium, auf dem nicht nur fromme Lieder, sondern auch das bis zum Überdruss angestimmte Lied Pierottos gespielt wird. Anders als bei Naturalisten sind die Wände jedoch schräg. Keine Frage, die Welt ist in Schieflage geraten, das Berg-Idyll hat gefährliche Schlagseite bekommen und nicht nur die Optik ist verrückt. Zum Schluss, wenn Linda wieder heimkehrt, sind die Fensterscheiben zerbrochen und durch das offene Dach schneit es hinein.

Nach der Tortur mit Beethovens „Missa solemnis“ wird der Chor (Einstudierung: Jan Hoffmann) diesmal vor keine großen Probleme gestellt und absolviert seine Auftritte mit gewohnter Souveränität. Nett anzusehen sind die adrett im Stil der Zeit gekleideten Kinder, die auch in musikalischer Hinsicht ihre Sache gut machen (Kinder- und Jugendchor: Martin Gärtner).

Bravourrolle

Wie die meisten Belcanto-Opern steht und fällt gerade diese mit der Besetzung der Primadonna. Die Titelpartie in „Linda di Chamounix“ ist nämlich für eine Sopranistin eine Paraderolle wie aus dem Bilderbuch, in der sie sich von ihrer virtuosen Seite zeigen und die atemberaubendsten Koloraturen nur so perlen lassen kann. Naroa Intxausti, Ensemblemitglied des Stadttheaters, meistert diese Aufgabe mit Bravour. Sie verfügt über eine mädchenhafte Flötenstimme, singt mit großer Leichtigkeit, strahlt Frische und Natürlichkeit aus und ihre Koloraturen sind nicht ohne Wirkung. Sie gibt der Verliebtheit und jugendlichen Unbekümmertheit ebenso Ausdruck wie der inneren Bedrängnis in der berühmten Wahnsinnsarie.

Als ihr Geliebter Carlo bringt Leonardo Ferrando, der zwar Argentinier ist, alles mit, was man von einem italienischen Tenor erwartet. Er hat Schmelz, Strahlkraft und Sentiment in der Stimme, ist leidenschaftlich, einschmeichelnd und besitzt eine schöne Höhe.

Seinen agilen, beweglichen Bariton führt Cozmin Sime als Vater Antonio ins Feld und gibt besonders im Duett mit seinem rumänischen Landsmann Calin Valentin Cozma als Präfekt eine sehr eindringliche Vorstellung. Mit seinem ausdrucksstarken Bass verkörpert Cozma auch diesmal wieder eine starke Persönlichkeit. So hat die Regie aus dem Präfekten einen mächtigen, einflussreichen Dorfpfarrer gemacht, bei dem letztendlich alle Fäden zusammenlaufen. In dieser Rolle wirkt Cozma wie Rasputin. Eine gute Figur macht auch die junge italienische Mezzosopranistin Sofia Pavone in der Hosenrolle des Pierotto. Geradezu beschwörend gelingt ihr als Erzählerin das Lied von dem Mädchen, das von dem Geliebten verführt und verlassen worden ist.

Für den komischen Kontrapunkt in dieser Inszenierung ist Erzkomödiant Tomi Wendt zuständig. Als Marchese spielt er einen Mann, der im wahren Wortsinn aus der Zeit gefallen ist: Er trägt eine Perücke, hohe Stiefel, einen Purpurmantel mit Hermelin und fuchtelt mit dem Schwert herum. Dieser Marchese ist eine schrille Theaterfigur, ein Störenfried in der naturalistischen Welt. Und wenn er singt, klingt es wie bei Rossini. Wendt, stimmlich jederzeit auf der Höhe, gibt dem Affen ordentlich Zucker und reizt die sich ihm bietende Komik voll aus. In weiteren Rollen sind Michaela Wehrum als Lindas Mutter und Vepkhia Tsiklauri als Intendent zu sehen.

Thomas Schmitz-Albohn, 02.02.2015, Gießener Anzeiger