Gießen "Linda di Chamonix" Heimat ist ein Schrank - Frankfurter Rundschau

05.02.2015

Heimat ist eine Schnittmenge aus Kirche, Wohnzimmer, Jagdtrophäen und einem Schrank für die kleinen und großen persönlichen Geheimnisse. Bernhard Niechotz hat für Gaetano Donizettis Belcanto-Oper „Linda di Chamounix“ ein dialektisches Bühnenbild entworfen: der erste Akt spielt in einer – keineswegs heilen und rechtwinkligen – leicht ganghofernden Arme-Leute-Provinz, der zweite in einer großstädtischen Reiche-Leute-Welt, der dritte dann in einer zerstörten, kaum mehr bewohnbaren Arme-Leute-Provinz.

Halbwegs unbeschädigt in allen drei Akten bleibt der alte Schrank, in dem irgendetwas aufbewahrt zu sein scheint, was der geschundenen Titelfigur Linda Halt gibt, in dem sie ein Versteck und durch den sie auch immer wieder ein neuer Weg nach drinnen, zum Schauplatz der Handlung, finden lässt.

Trotz ihres zivilisationskritischen Impetus ist Donizettis Oper allerschönster Belcanto, die Musik pure Sentimentalität, und das Libretto ist grotesker Unsinn. Aber so ist das manchmal bei Werken, die sich zwischen zwei Epochen setzen. Donizettis Oper war in den ersten sechs Jahrzehnten nach ihrer Uraufführung (Wien 1842) ein europaweiter Erfolg, aber im 20. Jahrhundert geriet das Werk in gründliche Vergessenheit.

Das in dieser Hinsicht seit geraumer Zeit überaus aktive Gießener Stadttheater hat das Stück ausgegraben, und Hans Walter Richter hat ihm eine angemessene und sehenswerte Inszenierung angedeihen lassen, die aus Widersprüchen des Werkes einen großen Teil ihrer Attraktivität zu gewinnen vermag.
Grandioser Sängersieg

Den größten Teil der Attraktivität macht die sängerische Besetzung aus. Die Titelrolle der Linda wird von Naroa Intxausti ausdrucksvoll und intensiv dargestellt und gesungen, als hätte Donizetti die effektvollen Partien direkt in ihre Tessitura komponiert. Der Partner ihrer verbotenen Liebe, der anfangs als Maler maskierte Viscomte di Sirval, ist der Tenor Leonardo Ferrando, der in der Premiere in einigen raren Momenten die Spitzentöne ein wenig forcieren musste, ansonsten einen ebenbürtigen Part lieferte.

Immer wieder gab es Szenenapplaus, und das Publikum verteilte ihn großzügig und zu Recht gleichmäßig auf das Ensemble, auf Chor, Extrachor sowie Jugend- und Kinderchor des Stadttheaters (Choreinstudierung: Jan Hoffmann, Martin Gärtner). Die Beifallssucht Donizettis, mit der Arien, Duette und Chor-Passagen mit sorgsam wohlklingenden Schlusseffekten den Szenenapplaus immer wieder geradezu provozieren, kann man ihm nach all den Jahren verzeihen. Ein grandioser Chor- und Sängersieg also, wie sich das für eine Belcanto-Oper gehört.

Aber eben auch eine Inszenierung voller politisch, sozial und historisch geschärfter Seitenblicke – auf soziale Folgen der Armut im 19. Jahrhundert; auf transzendente Heimatlosigkeit; auf eine christlich geprägte Moral, die kaum aufgeklärter daher kommt als das ethische Gerüst so genannter Ehrenmörder; auf die offen vorgeführte Doppelmoral der herrschenden Klasse. All das, was an der Belcanto-Außenhaut der Oper so zerrt, war in der Zeichenwelt der Inszenierung präsent und zerstörte die schöne Oberfläche gleichwohl nicht.

Dass eine ästhetisch anspruchsvolle Würdigung solcher Widersprüchlichkeiten nur mit großer sängerischer Kompetenz und nicht ohne Ironie funktionieren kann, wusste Donizetti selbst und machte darum den Marchese di Boisfleury zur komischen Figur. Tomi Wendt gibt dieser Gestalt eines moralfreien adligen Schürzenjägers eine so muntere und erfrischend sarkastische Molièrehaftigkeit, dass man sich seinem Charme nicht entziehen kann – zumal auch er in Punkto sanglicher Qualität und Nuancierung keine Wünsche offen lässt.

Das Philharmonische Orchester Gießen unter der Leitung von Florian Ziemen tat, was ein Orchester bei so einer Oper eben tun muss: präzise dosiert und ein wenig demütig begleiten und sich bei der läppischen Ouvertüre nicht in Sinngebungsversuche hineinsteigern.

Hans-Jürgen Linke, 05.02.2015, Frankfurter Rundschau