Pingpong der Befindlichkeiten: »In der Republik des Glücks« - Gießener Allgemeine Zeitung

27.04.2015

Es wird sehr viel geredet an diesem Abend – über ganz persönliche Befindlichkeiten. Denn Martin Crimp schickt seine Protagonisten auf einen schrägen Selbstfindungstrip. Und Regisseur Titus Georgi findet dafür originelle Bilder – das wirkt komisch, befremdlich, aber auf jeden Fall unterhaltsam.

Martin Crimp, geboren 1956 in der englischen Grafschaft Kent, ist ein brillanter Schreiber, der mit seinen Texten sowohl die Zuschauer wie auch die Darsteller fordert. Wer sich auf ihn einlässt, muss vor allem konzentriert zuhören, denn der Dramatiker spielt mit seinen Sätzen wie mit Pingpongbällen. So entspinnt sich ein fein gewobenes Wortnetz, das geschickt seine Fangstricke auswirft und dabei so manche Pointe ködert. Auch wenn diese bitter oder unappetitlich schmecken sollte. Seine »Republik des Glücks« ist eine formale Herausforderung, da die drei Teile des Stücks vollkommen unterschiedlich gebaut sind. Die Kunst besteht darin, sie ohne allzu großes Knirschen miteinander zu verknüpfen und ein homogenes Ganzes zu kreieren.

Titus Georgi gelingt dies am Samstagabend im Stadttheater mit Bravour – auch Dank des wunderbaren Bühnenbildes von Katja Wetzel, die einen flexiblen mehrfachen Rahmen geschaffen hat, der sich von Teil zu Teil immer weiter öffnen lässt, die Drehbühne geschickt für lautlose Umbauten und Verschiebungen nutzt, um am Ende nur noch auf einen Lichtkranz von oben reduziert zu sein.

Weiterer wichtiger Baustein ist die Musik, denn Crimp hat sieben Songtexte auf Englisch vorgegeben, die Parviz Mir-Ali eigens für die Gießener Inszenierung vertont hat – mal rockig, mal schmusig, durchaus mit Hitpotenzial. Dabei kommen einige Schauspieler wie Harald Pfeiffer, Milan Pešl, Mirjam Sommer und Anne-Elise Minetti gesanglich groß heraus. Doch bei allen Revueelementen zählt vom allem eines: das exakte Zusammenspiel des Ensembles, bei dem Anthony Taylor choreografisch mal wieder augenzwinkernd ganze Arbeit geleistet hat.

Da werden auf Pezzibällen rhythmisch im Takt die selbstzerfleischenden Sitzungen beim Therapeuten reflektiert (»Therapeutic Song«), in origineller Schrittfolge »die Freiheit, gut auszusehen und ewig zu leben« abgehandelt und Pfeiffer in Cowboy-Stiefeln und Lurexjacke wie ein alternder Rockstar von der Gruppe auf Händen getragen (»Acceleration«).

Was dies alles miteinander zu tun hat? Das erleben wir heutzutage in jeder Talkshow, in jedem Blog im Internet, bei dem uns ungefragt jeder zu jeder Tageszeit seine Intimitäten mitteilt, seine schrecklichen Erfahrungen absondert, altkluge Ratschläge gibt, wie man auf Schritt und Tritt sein Leben besser gestalten kann. Immer auf dem Weg, sein ganz persönliches Glück noch weiter zu optimieren – egal, ob es den anderen interessiert oder nicht.
Dies alles hat Crimp im zweiten Teil, den er »Die fünf Grundfreiheiten des Individuums« nennt, aufgegriffen und zu spitzfindigen spielerischen Reflektionen geformt, bei denen die Rollen von vornherein nicht festgelegt sind. Die Schauspieler werfen sich die Sätze gegenseitig zu, deren Worte dann aufgenommen und entsprechend weiter entwickelt werden. Das geht rasant ab und fordert das Reaktionsvermögen aller auf anregende Art und Weise.

Dabei beginnt der erste Akt noch ganz handfest wie eine typische britische Theaterkomödie à la Alan Ayckbourn. Zu Weihnachten hat sich die Familie, von Anika Klippstein in Kostümen der 60er Jahre verankert, um den Truthahn versammelt: der demente Großvater (Harald Pfeiffer), die flotte, einst erfolgreiche Oma (Petra Soltau), ihr überforderter Sohn (Rainer Hustedt) samt adretter Gattin (Carolin Weber) sowie die beiden Teenager Debbie (Mirjam Sommer) und Hazel (Anne-Elise Minetti).

Die unter Verwandten üblichen Gemeinheiten werden ausgetauscht, ohnehin steht die skurrile Tafelrunde unter Spannung, da die junge Debbie schwanger ist. Bis Onkel Bob (Milan Pešl) unerwartet hereinplatzt, das traute Beisammensein mit seinen Beleidigungen gründlich aufmischt. Als noch seine Frau Madeleine (Beatrice Boca) auftaucht, ist das Chaos perfekt, die Familie am Boden zerstört.

Alle Akteure sehen wir dann im zweiten Teil wieder, wo sie erstaunliche Metamorphosen durchleben. So groovt Weber plötzlich ausgelassen als Mann über die Spielfläche, Hustedt verwandelt sich in Batman mit gestutzten Hosen, und Soltau tänzelt als Spieluhrenfigur über die Bühne. Am Ende bleiben nur noch zwei übrig: Boca und Pešl, die als Madeleine und Bob einsam und isoliert in der fernen Republik des Glücks gestrandet sind und drohen, ihre ewige Liebe einfach zu vergessen.

Ein poetischer Schluss mit einem wehmütigen »100%-Happy-Song« für eine abenteuerliche Zeitreise, in der sich das Ensemble von seiner besten Seite präsentiert und sich – wie auch Regisseur und das übrige Team – dem reichlich belohnenden Applaus des Premierenpublikums sicher sein durfte.

Marion Schwarzmann, 27.04.2015, Gießener Allgemeine Zeitung