Es geht um Leidenschaft und Rhythmus. Um Begierde und Ablehnung. Und ums eigene Ego. Choreografin Henrietta Horn weckt in ihrem Tanzstück »Auftaucher« Emotionen. Das Publikum jubelt.
Es fängt beschaulich an, wenn Sven Krautwurst mit zwei Rasseln in den Fäusten im Dunkeln langsam den Rhythmus vorgibt. Achtviertel heißt der Takt, dem die Tänzer folgen. Aus betulichem Beschnuppern wird Sympathie und immer auch Antipathie. Der Mensch ist scheu, aber selbstverliebt und im Wortsinn auf dem Sprung, egal wo er auftaucht. Mit ihrem Tanzstück »Auftaucher« hat Choreografin Henrietta Horn Tanzgeschichte geschrieben. 1999 zum ersten Mal als zwölfminütiger Überraschungshit aufgeführt, mauserte sich das Kleinod zu einem spannungsgeladenen Portfolio menschlicher Emotionen. Die Tanzcompagnie Gießen zeigt das Werk aus dem Jahr 2001, das 2013 im Folkwang-Tanzstudio neu einstudiert wurde, im taT in der von Horn erarbeiteten knapp einstündigen Inszenierung. Eine leere Bühne, acht Stühle, zehn Tänzer, zwanzig Rasseln und angedeutete Abendgarderobe (Kostüme: Katharina Andes) – schon biegen sich die Balken und der Balkan.
Die Rasseln dienen als Rhythmusgerät und Kommunikator – und als Soundgenerator, wenn sich die Probanden beschnuppern, bis temporeiche Begierde erwächst und dann Ablehnung erfolgt. Jeder will im Mittelpunkt stehen, keinem gelingt es auf Dauer. Jeder will den andern manipulieren. Horn zeigt satirische Ansätze, wenn in einem beinahe virtuellen Zweikampf ohne Körperkontakt das Abenteuer Mensch kulminiert und in die Einsamkeit führt, während die andern Party feiern. Am Ende sitzt Krautwurst neuerlich mit zwei Rasseln in den Fäusten im Dunkeln, auf der andern Seite der Tanzfläche, und gibt langsam den Rhythmus vor, dem nun niemand mehr folgt.
Horns Stück ist in den Zeiten der sozialen Medien der Sprung auf die Plattform der Moderne gelungen. Hier ein Like für einen diffusen Helden, dort ein Shitstorm für den mit der falschen Meinung. Auf der analogen Ebene funktioniert der »Auftaucher« rund um die Themen Zweisamkeit und unterdrückte Leidenschaften mit seinen vor Schnellkraft berstenden Szenen ebenso. Die Tänzer liefern als Rasselbande eine spannungsreiche Gesamtleistung ab und dürfen in kleinen Soli brillieren. Die Musikeinspielungen verweisen das Stück nach Osteuropa und Lateinamerika. Von der Gruppe Fanfare Pourpour erklingt »Après le désert« mit seiner Vielfalt an Instrumenten. Der »Tango lunaire« des legendären Lalo Schifrin im Mittelteil des Tanzabends hat Kraft. Die Gruppe Fanfare Ciocarlia, eine zwölfköpfige Balkan-Brass-Band aus Rumänien, lässt es am Schluss Rumoren. Die Musik verhilft dem »Auftaucher« mit seinen tänzerischen Explosionen zu einem nachhaltigen Statement impulsiver Körpersprache. Premierenjubel am Donnerstag vom ausverkauften Haus.
Manfred Merz, 02.12.2017, Gießener Allgemeine Zeitung