Von der frühen Moderne zur Romantik. Eine Reise rückwärts unternimmt Dirigent Michael Hofstetter beim Sinfoniekonzert im Stadttheater. Geiger Kirill Troussov drückt dem Abend seinen Stempel auf.
Wenn er Musik auf eine einsame Insel mitnehmen dürfte, dann gehörten für ihn neben den großen Werken auch diese Miniaturen dazu: Anton Weberns »Fünf Orchesterstücke op. 10«. Generalmusikdirektor Michael Hofstetter präsentiert die expressiven Aphorismen des Wieners am Dienstagabend zum Auftakt des Sinfoniekonzerts im Stadttheater. Und weil ihm die wie hingetupft wirkenden Klangfarbenfacetten für Kammerbesetzung vom Anfang des 20. Jahrhunderts so gut gefallen, lässt Hofstetter das Stück von seinem Philharmonischen Orchester Gießen gleich noch mal spielen, nachdem er die Arbeit in gewohnt charmanten Worten als »geheimnisvolle Unterhaltung der Instrumente« erläutert hat.
Der Eröffnung mit ihrem Pointillismus-Charakter folgt mit dem Werk eines weiteren Wieners aus der frühen Moderne ein Höhepunkt des Abends: Alban Bergs Violinkonzert, das ein Jahr nach dem Tod des Komponisten 1936 uraufgeführt wurde. Berg legt darin eine einschneidende Totenklage aus dem Haus der Zwölftontechnik mit sehr spätromantischen Einsprengseln vor.
Der Komponist widmete das Konzert der an Kinderlähmung leidenden und im Alter von 18 Jahren verstorbenen Manon Gropius, Alma Mahlers Tochter aus der Ehe mit dem Bauhausgründer Walter Gropius. Zu hören ist tatsächlich ein »Aufschrei« zu Beginn des ersten Satzes, der im zweiten Abschnitt noch heftiger gerät und am Ende kulminiert. Als Solist steht der renommierte Kirill Troussov bereit, der auf seiner Stradivari »The Brodsky« aus dem Jahr 1702 einen virilen Klangteppich ausrollt und dem Stück seinen Stempel aufdrückt. Der russische Geiger kostet die harten Nuancen aus und verleiht der Partitur durch sein intensives Spiel Spannung. Hofstetter gibt mit dem Orchester den impulsiven Begleiter.
Der von Berg in den zweiten Satz eingearbeitete Bach-Coral (»Es ist genug...«) wirkt mit seiner heimeligen Tonalität wie ein Fremdkörper in diesem von druckvollen Dissonanzen geprägten Requiem. Als Zugabe gewährt der Violinvirtuose dem Publikum folgerichtig ein weiteres Stück von Bach: das Adagio aus der ersten Sonate des Barockmeisters.
Nach der Pause der dritte Wiener im Bunde: Franz Schubert mit seiner großen C-Dur-Sinfonie Nr. 8 – wieder kein operettenhaftes Wiener Blut, sondern ein Schlüsselwerk der Romantik. Groß, weil mit der Nummer 6 auch eine kleine Schubert-Sinfonie in C-Dur existiert. Das Orchester schwelgt leidenschaftlich durch die Partitur. Hofstetter zieht in den Ecksätzen das Tempo an, bewahrt im Andante Ruhe und im Scherzo die Lockerheit, um mit seinen motivierten Musikern erneut zu glänzen. Langer verdienter Applaus vom begeisterten Auditorium. Von Unstimmigkeiten zwischen dem Dirigenten und seinem Orchester ist am Dienstag im Großen Haus weder etwas zu sehen noch zu hören.
Manfred Merz, 18.04.2018, Gießener Allgemeine Zeitung