Schauspiel, Musik und Video – all das wirkt in Thomas Krupas Inszenierung von »Hoppla, wir leben!« im Stadttheater gleichberechtigt zusammen. Doch am Ende können die schönen Lichtmalereien und die musikalischen Einlagen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ernst Tollers Stück im Grunde schneller erzählt sein müsste. Die zweieinhalbstündige Inszenierung hat ihre Längen.
Ich habe früher nie gesehen, wie wenig Menschen Gesichter haben. Fleischklumpen die meisten.« Dieser Satz des Karl Thomas ist zentral im Schauspiel »Hoppla, wir leben!«. Der Revolutionär der Räterepublik erkennt nach seiner Entlassung aus der Psychiatrie, dass die Genossen von einst in der Zwischenzeit längst ihre Ideale verraten und sich mit den Gegebenheiten arrangiert haben. Sie haben als Minister, Gewerkschaftsfunktionäre oder Politikstrippenzieher Karriere gemacht.
Was der Pazifist Ernst Toller in seinem 1927 uraufgeführten Stück beschreibt, lässt sich leicht auf heutige Zustände übertragen. Wie einst die Weimarer Republik, so ist auch die heutige Demokratie bedroht. Populisten wollen ihr an den Kragen und der Idealismus der Gründerzeit Europas schleift sich an ungarischen Grenzzäunen und türkischen Erpressungsversuchen ab. Aber auch im Kleinen ist mancher »Fundi« längst zum »Realo« geworden.
In dieser Zeit will das Stadttheater mit seiner Auftaktpremiere, einem Stück über den Sinn und Irrsinn von Demokratie, Diktatur und Revolution, ein Ausrufezeichen setzen. So weit so gut. Doch leider ist das dramatisch eher dürftige Stück nur bedingt geeignet, ein solch großes Paket an Erwartungen zu stemmen – zumal Regisseur Thomas Krupa, so ähnlich wie es »Polittheater«-Legende Erwin Piscator bei der Uraufführung getan hatte, seine Inszenierung noch mit musikalischen und optischen Finessen zusätzlich auflädt. Elektronische Musik trifft nun unvermittelt auf Lieder im Stil von Hans Eissler, Videokunst auf historische Filmaufnahmen, linksrevolutionäre Parolen der Weimarer Zeit auf leicht zu überhörende Anspielungen auf aktuellen Zoff mit der Türkei – eine wirkliche Aktualisierung des rund 90 Jahre alten Stückes ist das nicht. Die wilde Melange ist für den ein oder anderen Zuschauer offenbar zu viel auf einmal und eine Handvoll verlässt schon bald den Saal.
Räume aus Licht
Videokünstler Stefano DiBuduo erschafft für Krupas »Tollhaus« zumindest im Teil vor der Pause sehr ästhetische Räume aus Licht. Erst überziehen in strenger Schwarz-Weiß-Optik geometrische Muster in der Formensprache des Bauhaus die komplette Szenerie. Dann verwandelt eine semitransparente Konstruktion, auf der Jahreszahlen als Zahlenkolonnen laufen, die Bühne zum Ministerium. Anschließend werden in grellen Neonfarben und mit fluoreszierender Gesichtsbemalung die angeblich so goldenen Zwanzigerjahre in einem Lokal persifliert. Das für die Zuschauer nicht immer ganz unanstrengende Hinschauen macht da durchaus Spaß und sorgt immer wieder für optische Überraschungseffekte, die gerade dann gut tun, wenn die Schauspieler wieder einmal alle durcheinander sprechen müssen.
Auch die von Christian Fries komponierte und live auf der Bühne am Klavier gespielte Musik gehört zum Gesamtkunstwerk. Fries, der auch als freakiger Bürger Pickel immer wieder in die Spielszenen eintaucht, schlägt einzelne Töne und Taktfolgen an oder spielt Lieder im Stil der Weimarer Zeit, zu denen die Schauspieler – warum auch immer auf Englisch – singen. Pure Begleitung im Sinne von Stummfilmmusik ist das nicht.
Allzu oft stehen die Schauspieler beim Sprechen im Dunkeln. Agiert wird vorwiegend als Gruppe im hinteren Bereich der Bühne, schließlich scheint es Regisseur Krupa um den optischen Gesamteindruck zu gehen und nicht wirklich um die einzelnen Figuren. Nette Effekte einerseits – zu wenig Konzentration auf Wesentliches andererseits. Schon die Eingangsszene, in der sich Lukas Goldbach als Karl Thomas im ureigensten Sinne durchs Leben boxt, erscheint nervtötend lang. Die Szene vom Aufeinandertreffen aller Protagonisten im Ministerium ist es definitiv.
Lukas Goldbach macht mit seinem Spiel deutlich, wie sehr Karl Thomas an der Welt, in der die unerfreuliche Wirklichkeit »krumm gebogen wird«, verzweifelt. Gewohnt glaubhaft wirken auch Roman Kurtz als vom Revolutionär zum aalglatten Minister mutierter Wilhelm Kilman, Anne-Elise Minetti als desillusionierte Gewerkschafterin und Tom Wild als charakterloser Politakteur sowie Carolin Weber als skrupellose Bankdirektorin mit Christine-Lagarde-Frisur. Maximilian Schmidt als fieser Nazileutnant und rechter Attentäter, Gastschauspieler Frank Albrecht als adeliger Intrigant und Pascal Thomas als Radiomoderator können in kleineren Rollen überzeugen. Paula Schrötter, neu im Ensemble, gibt als überhebliche Ministertochter mit Sinn für effektives Posieren im Stil der Bubikopfära, aber auch als kaltherzige Aufseherin ihren gelungenen Einstand. Lotta Hackbeil, ebenfalls neu im Ensemble, changiert gekonnt zwischen naivem Fräulein, tanzfreudigem Piccolo und devoter Sekretärin.
Der lautstarke Applaus einiger Zuschauer am Ende für Schauspieler und Regieteam, aber auch das vorzeitige Verlassen des Saals anderer aus dem Publikum, zeigen, dass »Hoppla, wir leben!« kein leicht-zugänglicher Einstieg in die neue Spielzeit ist. Die ästhetischen Lichtmalereien von Stefano DiBuduo sind es aber allemal wert, sich das Stück anzusehen. Möglich ist das noch am 9. und 24. November, 14. Oktober, 3. November und 1. Dezember.
Karola Schepp, 03.09.2017, Gießener Allgemeine Zeitung