»Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone« heißt die neueste Schauspielpremiere am Stadttheater. Unbedingt ansehen!
Ein Rhythmus erklingt hinter dem Vorhang, noch bevor die Zuschauer im Saal endgültig zur Ruhe gekommen sind. Es ist ein komplizierte Abfolge aus Klatschen, Schnipsen, Stampfen, die in Bann zieht und die man auch nach der Vorstellung nur schwer wieder aus dem Kopf bekommt. Und es ist der Rhythmus, der Christopher Boone, die Untertitelfigur aus »Supergute Tage oder Die sonderbare Welt des Christopher Boone« beruhigen kann, wenn er mal wieder von den Dingen um ihn herum überfordert ist. Denn der 15-Jährige ist Autist, ohne dass das an diesem Abend explizit ausgesprochen wird. Muss es auch nicht, denn in dem auf Mark Haddons Buch basierenden neuen Schauspiel am Stadttheater – einer Mischung aus Coming-of-Age-Story, Jugendkrimi und Familienträgodie – geht es nicht in erster Linie um die Darstellung der Krankheit an sich, sondern um das Erobern von unbekannten Welten, um Mut, Selbstvertrauen und den Aufbruch junger Menschen in die Welt der Erwachsenen.
Abdul M. Kunze, am Stadttheater ohnehin Fachmann für jugendaffine Themen, inszeniert die Bühnenfassung von Simon Stephens mit Lust an den Möglichkeiten des Theaters für jüngere und ältere Zuschauer gleichermaßen. Das Ensemble sorgt mit dem immer wieder aufgenommenen rhythmischen Klatschen (ausgedacht von Masae Nomura und Milan Pešl) quasi für den Pulsschlag der Geschichte, in der Christopher den Mord am Nachbarshund aufklären will, dabei sein Familiengeheimnis herausfindet und sich eine für ihn fremde Welt erobert.
Bühnenbildnerin Katja Wetzel hat dafür einen abstrakten Raum entworfen, der auf das Allernotwendigste reduziert ist. Eine riesige Betonwand rückt im ersten Teil immer weiter in den Hintergrund, so wie sich eben Christophers Horizont erweitert, um dann kurz vor der Pause mit einem Knall umzufallen. Wie der Junge die unsichtbaren Mauern um sich einreißt, so bringt er auch die tatsächliche Mauer zum Einsturz, und taucht nach der Pause in eine Welt voller unbekannter Dinge und Farben ein – symbolisiert von einem bunt leuchtenden Glasboden. Farbige Koffer wandeln sich mal in das Kreuz des von Christophers streng der Logik folgenden Fragen überforderten Pastors, mal in die Tetrisblöcke, mit denen der Junge am PC spielt. Ansonsten bleibt die mit Zahlenfolgen bemalte Bühne mehr oder weniger leer.
Die Kostüme von Anika Klipstein karrikieren die Typen, die Christopher auf seiner Reise auf der Suche nach seiner angeblich verstorbenen Mutter, begegnen: der laute Aufschrei der Hundebesitzerin gleich zu Beginn, der Cowboy am Bahnhof, die verständnislose Schulleiterin oder die hippe Alte mit Rollator sind stark überzeichnet, sorgen aber immer wieder für Aufmerksamkeit, sodass auch die Zuschauer allerhand Neues entdecken und die Spannung erhalten bleibt.
Sonderbar mit Charme
Maximilian Schmidt spielt Christopher Boone auf sehr anrührende Weise, macht ihn zum Sympathieträger. Ihm gelingt es, das nerdige Verhalten des Jungen, der zwar in Mathe eine Genie ist, aber kaum in der Lage ist, Gefühle zu deuten, auf eher zurückhaltende Art zu zeigen. Mit starrem Gesichtsausdruck, hölzernen Bewegungen und unemotionalem Ton charakterisiert er Christopher vortrefflich, ohne ihn zum Freak zu machen. Zu Recht gibt es dafür am Ende vom Publikum auch lautstarken Applaus.
Doch auch in den anderen Rollen überzeugt das Ensemble und schlüpft gleich in mehrere Figuren. Beatrice Boca setzt nicht nur als geschockte Hundebesitzerin mit einem lauten Aufschrei Duftmarken, sondern kann auch als Christophers Mutter glaubhaft machen, wie schwer es ist, mit einem solchen Kind den eigenen Ansprüchen an das Bild der allseits verständnisvollen Mutter gerecht zu werden. Verständnis hat man aber auch für den von Rainer Hustedt mit viel Emotion verkörperten Vater, obwohl er der Hundemörder ist und Christopher belügt. Anne-Elise Minetti führt als Erzählerin souverän durch die Geschichte, die in der Original-Buchvorlage Christopher in Ich-Perspektive erzählt. Petra Soltau, Harald Pfeiffer, Milan Pešl und Thomas Wild sorgen im fliegenden Wechsel zwischen den skurrilen Figuren dafür, dass Christopher auf seiner Suche gleich einem ganzen Arsenal von eigentümlichen Typen begegnen kann.
Wenn am Ende der Premiere Christopher seine Abiturprüfung in Mathe abgelegt hat und mit neuem Selbstvertrauen »Ich kann alles« sagt, dann hat er die Herzen der Zuschauer erobert. Und dennoch ist man auch ein bisschen erleichtert, dass die Erzählerin mit dem Hinweis »Wer will schon sehen, wie Du rechnest« die Prüfungsszene unterbricht und die Vorführung solcher »Rain Man«- oder »A beautiful mind«-Szenen für die Premierenfeier ankündigt. Doch auch daraus wird nichts, denn Christopher verweigert das mit der Ankündigung, dies eventuell bei künftigen Vorstellungen zu demonstrieren. Noch ein Grund mehr, sich »Supergute Tage oder Die seltsame Welt des Christopher Boone« im Stadttheater anzuschauen.
Karola Schepp, 06.03.2017, Gießener Allgemeine Zeitung