Ein exzellentes Bühnenbild, eine aufs Wesentliche fokusierte Regie und einüberzeugendes Ensemble – und dennoch lässt Marieluise Fleißers »Fegefeuer in Ingolstadt« ein merklich konsterniertes Premierenpublikum im Stadttheater zurück. Denn das Stück an sich macht es dem Publikum von heute doch sehr schwer.Ein zweites Mal würde ich das Stück nicht mehr inszenieren«, hatte Regisseur Thomas Goritzki schon im Vorgespräch klar gemacht. Wer die Premiere von »Fegefeuer in Ingolstadt« am Samstag im Stadttheater erlebt hat, kann es ihm nicht verdenken. Das Schauspiel in sechs Bildern von Marieluise Fleißer macht es Regie und Zuschauern nicht gerade einfach. Auch wenn die Geschichte vom Treten und Getretenwerden, vom Machtmissbrauch eines entfesselten Mobs und dem Ausgrenzen derjenigen, die nicht in die Gruppe zu passen scheinen, voller die Zeit überdauernder Wahrheiten ist – die unseren Ohren doch sehr fremd gewordene Sprache, das prototypenartige Skizzieren der Figuren und der allem zugrundeliegende Einfluss des Katholizismus stehen dem heutigen Begreifen dieses Stückes über Ausgrenzung und Diffamierung im Wege. Und dabei machen Regisseur Thomas Goritzki und Bühnen- und Kostümbildner Heiko Mönnich doch eigentlich alles richtig.
Schon wenn sich der Vorhang zum ersten Mal hebt und 36 an Fäden hängende überlebensgroße Puppen die anonyme Masse symbolisieren, beeindruckt diese Inszenierung in ihrer morbiden Ästhetik und ihrem von Industrieklängen bestimmten Sound (Volker Seidler). Mönnich lässt die Jugendlichen um die ungewollt schwangere Olga und den seelisch wie körperlich deformierten Roelle auf Bahngleisen ihr Elend vorführen. Eine Richtung im Leben finden sie nicht, so wie auch die gebrochenen Gleise auf der Drehbühne immer in andere Richtungen weisen. Live-Videoaufnahmen aus der Vogelperspektive oder bedeutungsschwere Schattenspiele auf der Leinwand im Hintergrund sind zusätzliche Elemente, die dieses Bühnenbild zu einem der besten dieser Spielzeit im Schauspiel machen.
Die Kostüme sind der Zeit geschuldet, in der Fleißer ihr Stück Anfang der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts geschrieben hat, doch Hängekleidchen und Haarschleifen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier nicht um ein jugendliches Drama im scheinheiligen Kleinstadtmilieu handelt, sondern um krasse Gewaltexzesse in den Niederungen der Menschheit, Strähnige Haare und bleiche Gesichter, körperliche Deformierungen wie Olgas Schiefhals und Roelles Feuermal und Zuckungen prägen die Szene mit Komasaufen, Waterboarding und einer Steinigung – und dennoch reden die typenhaft skizzierten Jugendlichen in wuchtvoll-phrasenhaften Sätzen und siezen sich im Stil längst vergangener Zeit. Da fällt das Mitfühlen doch sehr schwer, zumal es keine klare Zuordnung von Gut und Böse, Stark und Schwach gibt und die Opfer auch immer zugleich Täter sind.
Goritzki arbeitet sich an der Wucht der Fleißerschen Sprache ab, gibt ihr Raum, ohne sie durch Regiespielereien zu verdecken. Dass die Figuren trotz ihrer Verzweiflung oberflächlich bleiben, die Zuschauer ohne Vorwissen kaum in die Handlung reinfinden und das Stück trotz aller seiner klugen Erkenntnisse über das Rudelverhalten in einer Gesellschaft, die ihre Werte verloren hat, merkwürdig unnahbar bleibt, daran kann Goritzki nichts ändern.
Anne-Elise Minetti als an ihrer Schwangerschaft verzweifelnde Olga und Lukas Goldbach als schaurig-verkrampfter Roelle verdienen sich an diesem Premierenabend ihren lautstarken Applaus redlich. Minetti tut alles, um ihrer Olga Tiefe zu geben. Doch Fleißer lässt ihr einfach nicht genug Möglichkeiten, die Verzweiflung ihrer Figur über Phrasen hinaus zu entwickeln. Ihr Selbstmordversuch, ihre Suche nach einem Mann, der sie aus ihrem Elend erlöst, ihre Widerwilligkeit gegenüber Roelle – all das wird nur angerissen. Lukas Goldbach spielt den von religiösen Visionen gepeinigten und von seinen Mitschülern geächteten Sonderling mit Inbrunst, macht uns den Unsympathen fast schon sympathisch – aber dennoch bleibt auch diese Rolle eher Type als tragische Gestalt. Marlene-Sophie Haagen als Olgas von Eifersucht getriebene Schwester Clementine, Milan Pesl als unfreiwilliger Kindsvater Peps und Beatrice Boca als seine neue Freundin Hermine, eine Rotzgöre erster Güte, setzen Akzente. Christian Fries als Olgas überforderter Vater und Pascal Thomas als Bruder Christian bleiben schemenhafte Figuren und Carolin Weber nutzt als Roelles herrschsüchtige Mutter die kurzen Momente, um die krankhaft symbiotische Form dieser Mutter-Sohn-Beziehung zu transportieren. Sebastian Songin und Felix Bold haben kurze Auftritte als fiese Ministranten und Rainer Hustedt und Maximilian Schmidt können als grobschlächtige Gesellen Protasius und Gervasius den ein oder anderen Lacher für sich verbuchen, auch wenn kaum nachvollziehbar ist, dass sie die Schergen eines obskuren Wissenschaftlers sein sollen, der Roelle als sein Studienobjekt ausgesucht hat..
Auch wenn nach gut zwei Stunden Aufführung der Premierenapplaus für die Schauspieler und das Regieteam recht laustark ausfällt, verlässt am Ende ein Großteil des Publikums den Saal mit dem ein oder anderen erlöst klingenden Seufzer. Ein uneingeschränktes Ja zur in ihrer Morbidität hochästhetischen Inszenierung und ein skeptisches Nachdenken über dieses Stück sind die Bilanz dieses Premierenabends.
Karola Schepp, 08.01.2017, Gießener Allgemeine Zeitung