Mitten im Winter hat das Stadttheater die Gartensaison eröffnet. In seiner Inszenierung der in Vergessenheit geratenen und nun in Gießen wiederentdeckten romantischen Spieloper "Der Barbier von Bagdad" von Peter Cornelius konzentriert sich Gastregisseur Roman Hovenbitzer auf die parodistischen Charakterzüge und die blumige Sprache des Werks und verlegt das Geschehen ins Reich der Pflanzen und Insekten. Herausgekommen ist ein grelles, schreiend buntes, szenisch überbordendes Spektakel mit einem tiefer gelegten Niveau auf Höhe der Grasnarbe.
Wie bei Biene Maja
Da, wo sich im Original die Fantasie eines deutschen Romantikers an der Märchenwelt aus Tausendundeinernacht entzündet, lässt Hovenbitzer Käfer und allerlei Getier auf das Publikum los. Zweieinhalb Stunden kreucht und fleucht es in der Krabbel-Oper an allen Enden. Man fühlt sich wie bei Biene Maja, Willi und Co.
Überrascht, irritiert, aber auch amüsiert haben die Besucher bei der Premiere am Samstag auf diesen ungewöhnlichen "Barbier" reagiert und allen Beteiligten mit herzlichem Applaus gedankt. So richtig ernst dürfte die Aufführung freilich kaum einer genommen haben, die in ihrem Verlauf immer bizarrere Formen annimmt. Eines muss man der Regie aber lassen: Kurzweilig ist es.
Die Musik ist Original Cornelius. Sie kommt leichtfüßig daher, und als wollte sie der gewaltsamen Umsetzung auf der Bühne trotzen, duftet sie unter der engagiert-beherzten Leitung des stellvertretenden GMD Jan Hoffmann nach Orient, verströmt sie Liebreiz und Grazie. Derart motiviert lässt das Philharmonische Orchester die Partitur voll Poesie, Ironie und einer melodischen Fülle munter aufleben. Dabei treten auch die fast kammermusikalischen Qualitäten der Partitur zutage, der jegliche knallige Operndramatik fremd ist.
Für den ungehemmten Trubel sorgen stattdessen der Regisseur und sein Bühnenbildner Duncan Hayler, denen keine Assoziation zu weit hergeholt scheint. Das Gezeigte ist so beziehungs- und detailreich, dass sich der Sinn nicht immer erschließt. Märchenbilder, Symbole, Fantasiegebilde und surrealistische Traumbilder wie die bedrohlich über den Köpfen schwebenden, weit geöffneten Scheren purzeln wild durcheinander. Fast möchte man trällern: "Pack die Gartenschere ein, nimm dein kleines Käferlein, und dann nischt wie raus..."
Zu Beginn sieht man ein Feld mit großen Blumenzwiebel, aus denen allmählich lange, lilafarbene Gewächse emporsprießen. Dazwischen tummeln sich Nureddin als liebeskranker Bienerich, der Barbier Abul Hassan als geschwätzige Schildkröte, Margiana als liebestolle Biene, ihre Vertraute Bostana als Maulwurf mit riesigen Schaufeln, ihr Vater Baba Mustapha als schwarzer Hirschkäfer mit scharfen Scheren sowie der paramilitärische, gut gepolsterte Insektenchor, der nachher nochmals als Chor der Blumenzwiebeln auftritt. (Für Leser, die wissen möchten, worum es in dieser Oper wirklich geht, gibt es unten auf der Seite den Infokasten zur Handlung.)
Die ganze Bühne ist ständig in Bewegung. Schwarz gekleidete Tänzerinnen mit bunten Tüchern wuseln umher, ein großer Blütenkelch öffnet sich und ihm einsteigt Margiana. Mit einem riesigen Rasiermesser fällt der Barbier die hohen Gewächse wie Baumstämme, die sich nun - wer hätte das gedacht? - als Nureddins überdimensionale Barthaare erweisen. Und wenn er zum Schluss den leblosen Nureddin vor versammelter Insektenschar wieder belebt, muss er erst noch einen zerzausten Geier abwehren, der offenbar direkt der Augsburger Puppenkiste entflogen ist.
Gute Besetzung
Zum musikalischen Gelingen der Oper benötigt man vor allem einen erstklassigen Tenor und einen charaktervollen Bass-Buffo. In Gießen ist man in der glücklichen Lage, über beide zu verfügen. Haus-Tenor Clemens Kerschbaumer gibt als Nureddin eine bravouröse Vorstellung. Es ist eine kräftezehrende Partie, die zu den Paraderollen so namhafter Tenöre wie Rudolf Schock und Fritz Wunderlich zählte. Die Tonhöhe schießt von niedrig nach hoch, von Kopf- nach Bruststimme und umgekehrt. Kerschbaumer bringt seinen schönen, lyrischen Tenor zur Geltung, der kräftig und schmeichlerisch strahlt, wenn er von seiner Margiana schwärmt; beschwörend auch sein Liebesduett mit Karola Pavone als Margiana zu Beginn des zweiten Aktes. Ihr Gesang ist von Wärme durchdrungen, doch fehlt es ihrem Sopran noch ein wenig an Volumen.
Als Gast von der Komischen Oper in Berlin ist Philipp Meierhöfer mit kräftigem Bass in der Titelpartie zu erleben. In der Rolle des Barbiers, der sich selbst als "Gesamtgenie" mit 42 Berufen sieht, hat der Komponist sehr wahrscheinlich Richard Wagner augenzwinkernd parodiert, mit dem er damals befreundet war. Meierhöfer verfügt für diese Rolle über die nötige stimmliche Beweglichkeit und eine markante Tiefe. Zudem versteht er es, die Komik des chaotischen Schwätzers genüsslich auszureizen, wenn er zum Beispiel seine sechs verstorbenen Brüder aufzählt, die alle der Liebe zum Opfer gefallen sein sollen.
Als Maulwürfin Bostana bringt Marie Seidler ihren klangschönen Mezzosopran in Stellung, und Dan Chamandy mischt als Hirschkäfer Baba Mustapha das Geschehen mit seinem expressiven Tenor auf. Mit seinem kraftvollen Bariton klärt Grga Peros als Kalif alle Verwicklungen auf.
Alles in allem ist an diesem "Barbier" in musikalischer Hinsicht nichts auszusetzen; beim Zuschauen hilft ein kindliches Gemüt.
Thomas Schmitz-Albohn, 30.01.2017, Gießener Anzeiger