Welch ein Triumph für das Gießener Musiktheater, welch eine Glanzleistung aller Beteiligten an Giuseppe Verdis Erfolgsoper "La Traviata"! Alle - vom Dirigenten Michael Hofstetter über die Musiker und Solisten bis zu den Chorsängern - haben zur Eröffnung der neuen Spielzeit gezeigt, wie packend, wie bewegend Oper sein muss, um das Publikum mitzureißen. Sie alle erleben und steigern die Musik, durchleiden die Szenen und Konflikte. Die Inszenierung von Wolfram J. Starczewski, die am Samstagabend vor vollem Haus Premiere feierte, besticht durch Gefühlstiefe, größte Intensität und Unmittelbarkeit des Erlebens. Im Mittelpunkt der zweieinhalbstündigen Aufführung steht Dorothea Maria Marx, die im minutenlang wogenden Schlussapplaus zu recht den stärksten Beifall einheimsen durfte. Stimmlich nuanciert, ausgefeilt und mit wunderschön hingehauchten Tönen lässt die Sopranistin in jedem Augenblick ihrer innigen Darstellung die Wandlung der schillernden Halbweltdame Violetta zur bedingungslos Liebenden glaubwürdig erscheinen.
Ewige Themen
Schon in der berühmten Ouvertüre klingen die beiden Hauptmotive der Oper an: Liebe und Tod. Und diese beiden großen ewigen Themen bestimmen auch als Grundakkorde der Inszenierung, die das Seelenleben ihrer Figuren differenziert ausleuchtet. Gespielt wird in einem großen weißen Bühnenrahmen (Bühne und Kostüme: Lukas Noll), der wie ein Brennglas, wie ein Katalysator wirkt: Hier sind die seelischen Konflikte noch einmal verstärkt hervorgehoben, hier bündeln sich die Gefühl- und Handlungsstränge, und hier nimmt das spannungsvolle Psychodrama zwischen den drei Hauptpersonen unerbittlich Fahrt auf.
Das ganze gesellschaftliche Drumherum spielt sich dahinter auf einer niedrigeren Ebene ab. Da tummelt sich die bunte Festgesellschaft in Violettas Haus, und etliche runde Spiegel an der Decke reflektieren das ausgelassene, fröhliche Treiben. Sehr raffiniert! Doch vorne im weißen Rahmen geschieht das, was wirklich wichtig ist: Noch während der Ouvertüre sieht man, wie Baron Douphol (Matthias Ludwig) aus Violettas Schlafzimmer kommt und sich die Hose zuknöpft. Später, als der etwas unbeholfene Alfredo (Giuseppe Talamo) ihr inmitten der lauten Festgesellschaft sein selbstgeschriebenes Liebeslied vorsingt, muss er es vor lauter Aufregung vom Blatt ablesen. Wieder etwas später scheinen die Liebenden in der ländlichen Idylle ihr Glück gefunden zu haben: Alfredo macht das Fahrrad für den nächsten gemeinsamen Ausflug fertig, Violetta trägt Gummistiefel und Strickjacke, und im Hintergrund blühen Sonnenblumen.
Musik übersetzt
Wie sehr es der Regisseur, der eigentlich vom Schauspiel kommt, versteht, den emotionalen Gehalt der Musik in einprägsame, ausdrucksstarke Bilder zu übersetzen, zeigt sich vor allem zum Schluss hin, wenn nur noch in einem fast nackten Raum gespielt wird. Der Arzt (Aleksey Ivanov) ist bei der sterbenden Violetta. Sie versucht auszubrechen, doch er hält sie an einem schwarzen, zusammengeknoteten Strang zurück. Keine Frage, dies ist der Tod, der die Sterbende bereits in seinen Fängen hat und dazu Schampus aus der Flasche trinkt.
Gleich darauf, wenn die Klänge des Karnevals hinauf ins Zimmer dringen, sieht man durch den Gazevorhang im Hintergrund, wie zahllose Hände der unheimlichen Fastnachtsfiguren nach Violetta greifen.
Und dann dreht der Tod die Flasche um: leer, kein Tropfen mehr. Die Lebenskraft ist aufgebraucht, Violetta stirbt.
Das Seelendrama findet aber nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Orchestergraben statt. Das Philharmonische Orchester Gießen und Generalmusikdirektor Michael Hofstetter, der sensibel, sängerfreundlich und zugleich zupackend dirigiert, schlagen lebendige Funken aus der Partitur, die neben tiefer Dramatik und lyrischer Wärme herrliche musikalische Einfälle in Hülle und Fülle enthält. Vor allem aber kommt die typisch Verdi'sche Mischung aus Sentiment, Schmelz und Schwung voll zur Geltung.
Wie eingangs erwähnt, ist Dorothea Maria Marx, die in dieser Rolle ihr Debüt in Gießen gibt, eine faszinierende Violetta. Ihr klangschöner Sopran verströmt Anmut und Natürlichkeit, und die technischen Anforderungen der Partie bewältigt sie mit scheinbar müheloser Leichtigkeit. Fließende Koloraturen, lyrische Zartheit, hochdramatische Ausbrüche - ihre ganz aus dem Gefühl heraus gestaltete Interpretation lässt es an nichts fehlen.
An ihrer Seite gibt Giuseppe Talamo mit seinem weit ausstrahlenden Tenor und dem für Verdi unverzichtbaren Schmelz den etwas ungestümen Alfredo. Er verkörpert einen in der Glamourwelt recht ungeschickten, reichlich naiven jungen Mann, aber im Gesang des Italieners lodert die Leidenschaft des Liebhabers.
Zwischen Ehre und Gefühl
Eine starke Vorstellung gibt der Kanadier Alexander Hajek, der als Vater Germont zwischen Moral, Familienehre und Gefühlen hin- und hergerissen ist und der "vom Weg Abgekommenen" zum tieferen Verständnis seiner Handlungsweise Familienfotos zeigt. So schlägt sein ausdrucksvoller, geschmeidiger Bariton durchaus sanfte Töne an - eindringlich und berührend.
Marie Seidler, die neue Mezzosopranistin am Haus, zeigt als Flora, dass sie nicht nur eine schöne Stimme hat, sondern auch mit ihrem Äußeren die Männer becircen kann.
In weiteren Rollen: Michaela Wehrum (Annina), Clemens Kerschbaumer (Gastone) und Marquis d'Obigny (Tomi Wendt). Und der vom Jan Hoffmann einstudierte Chor gibt wieder alles. Bravo!
Thomas Schmitz-Albohn, 12.09.2016, Gießener Anzeiger