Es wird viel gezeigt an diesem Abend; und zwar so viel gezeigt, dass man es als Zuschauer am Ende leid ist. Über zwei Stunden sieht man ausgestreckte Arme und Zeigefinger, die anklagend und einschüchternd auf andere deuten. Die Botschaft ist klar: Jeder fällt über jeden her, und alle verletzen sich gegenseitig. Der Bühnenerstling "Fegefeuer in Ingolstadt", den Marieluise Fleißer (1901 bis 1974) in den frühen 20er Jahren geschrieben hat, mischt den robusten Ton des Volksstücks mit der hochgestimmten Überspanntheit des Expressionismus. In der Inszenierung von Thomas Goritzki ist das sperrige, schwierige Stück im Gießener Stadttheater auf die Bühne gekommen und vom Premierenpublikum am Samstag jubelnd gefeiert worden.
Expressive Körpersprache
Im Vorfeld hatte der erfahrene Regisseur gestanden, dass ihm dieses Werk alles abverlange. In seiner Inszenierung zeichnet er eine archaisch anmutende Welt am Rande der Gesellschaft. Die seinerzeit noch junge Dichterin schrieb aus der Eingebung, aus den Tiefen ihrer Triebe und Ängste heraus und brachte den Schmerz in einer schroffen, ungelenk wirkenden Kunstsprache hervor. Goritzki hat dieser Sprache den Rhythmus abgelauscht und mit der expressiven Körpersprache und allerlei Anleihen des Stummfilms (siehe oben) daraus eine düstere, bedrückende Ballade gemacht, die die Zuschauer vor allem im ersten Teil mit ganzer Wucht trifft. Im zweiten Teil verliert die Aufführung deutlich an Intensität, weil es offenbar nicht möglich ist, die Spannung so lange hochzuhalten.
Schauplatz ist ein trostloser Ort, ein ausgedienter Rangierbahnhof mit Gleisen in verschiedene Richtungen (Bühne und Kostüme: Heiko Mönnich). Im Hintergrund spannt sich im Halbrund eine hohe schwarze Wand, auf der im weiteren Verlauf die stark vergrößerten Schattenbilder der Darsteller (Stummfilm!) und Videobilder zu sehen sind. Dazu ertönt rhythmisches, metallisches Trommeln. Hier treffen sich die jungen Außenseiter einer kleinstädtischen Unterdrückungsgesellschaft, die zwei, drei Mal als anonyme Masse in Gestalt einiger menschengroßer Puppen bedrohlich aufzieht. Auch die Jugendliche demütigen in ihrer Clique andere und wollen über andere herrschen - genau so, wie sie es zu Hause ihren Eltern abgeguckt haben. Um die Jugend der handelnden Personen zu betonen, tragen die Mädchen leichte Kleidchen und die Jungs Hochwasserhosen.
Im Mittelpunkt steht der pubertierende Roelle, ein Sonderling mit religiösem Wahn, der sich in die ungewollt schwangere Olga verliebt hat. Aber selbst diese arme Verstoßene will letztlich nichts von ihm wissen. Am Ende hält er sich gar für den Teufel und verschlingt seinen Beichtzettel. Von seiner äußeren Erscheinung her sieht Lukas Goldbach als Roelle so aus, als sei er direkt aus Friedrich Murnaus Stummfilm "Nosferatu" (1922) auf die Bühne des Stadttheaters gefallen. In geduckter, steifer Körperhaltung, den Hals eingezogen, Flecken im Gesicht, die Hände zu Krallen verkrampft, zieht er in wippenden Schritten seine Kreise. Goldbach stattet diesen Roelle mit einer nicht nachlassenden Energie im Insistieren aus, redet sich um Kopf und Kragen und kämpft verzweifelt gegen die Opferrolle an, wenn ihm die dominante Mutter (köstlich: Carolin Weber in der Gouvernanten-Rolle) gewaltsam Suppe einflößt, oder wenn ihn die Clique schadenfroh in einen Wasserbottich taucht. Nicht nur bei Goldbach, sondern bei allen anderen Darstellern spürt man die starke Hand der Regie, denn sie alle meistern die besondere Herausforderung durch die Sprache, die ja in jedem Augenblick den Rhythmus, die Betonung, die Stimmung und den Fortgang des Geschehens bestimmt.
Schmerzensgestalt
Blass, ausgemergelt und mit zerzauster Mähne gleicht Anne-Elise Minetti als Olga einer Schmerzensgestalt von Käthe Kollwitz. Neben dem Gefühl der Verlorenheit scheint in ihrem Spiel eine große Sehnsucht nach Geborgenheit auf. Doch letztlich bleibt nur die Ratlosigkeit.
Biestig, rechthaberisch und laut schreiend - das ist die von Marlene-Sophie Haagen verkörperte Clementine. Pascal Thomas gibt ihren Bruder Christian als kraftmeierndes Großmaul. Milan Pesl, der als Peps wie ein Landstreicher bei Beckett daherkommt, ist hauptsächlich damit beschäftigt, Bierflaschen zu öffnen, und Beatrice Boca spielt Hermine als keifendes Gör. Mit nackten Oberkörpern ist das Duo Rainer Hustedt und Maximilian Schmidt für den hintergründigen Humor zuständig. In den weiteren Rollen wirken Christian Fries als verschrobener Vater sowie Sebastian Songin und Felix Bold als Ministranten mit.
Thomas Schmitz-Albohn, 09.01.2017, Gießener Anzeiger