Es sind die Übriggebliebenen, die vom Glück Vergessenen, die Dea Loher in ihrem Stück »Diebe« wie in einem Reigen der Absonderlichkeiten auflaufen lässt. Ira, die seit 43 Jahren in einem Hotelzimmer auf ihren abgängigen Mann wartet; Monika, die für ihre versprochene Karriere im Supermarkt bereit ist, ihre Familie zu opfern; oder Linda, die um ihren Arbeitsplatz in einer maroden Therme bangt und glaubt, in einem geplanten Naturreservat unterzukommen. Sie alle verschließen die Augen vor der Realität, stehlen sich in ihren Zukunftsvisionen wie »Diebe« durch ihr eigenes Leben hindurch. Wahre Freunde, positive soziale Kontakte und Empathie – all das haben diese Glücklosen nicht. Und halten doch umso fester an ihrer Scheinwelt fest.
Die 1964 geborene Dramatikerin Loher führt in ihrem 2009 uraufgeführten Episodentext ganz »undramatisch« und mit lakonischem Humor zwölf unterschiedliche Biografien zusammen. Jede für sich ist ein eigenes Minidrama aus dem Alltäglichen ganz alltäglicher Jedermänner und -frauen. Zwar wird vieles nur angerissen und wirken die Verbindungen untereinander zuweilen recht konstruiert – doch am Ende ergibt alles einen Sinn, ähnlich wie in Robert Altmans Film »Short Cuts«.
Erst im Laufe der Aufführung wird das Geflecht der Lebensläufe untereinander deutlich: Nach und nach erkennt man, dass die schwangere Mira ihr Kind abtreiben will, weil sie selbst nur die »Frucht eines Ergusses« eines anonymen Samenspenders ist. Erst allmählich wird klar, dass ihr Geliebter mit dem sprechenden Namen Josef Erbarmen seine Suche nach Miras Erzeuger mit dem Leben bezahlen wird. Und erst spät wird klar, dass Monika statt auf der Karriereleiter nach oben zu klettern, mit einem Kopfschuss in der Notaufnahme landen wird. Immer wieder kommt es zu überraschenden Wendungen, die beim Zuschauen Spaß machen. Und weil Lea Doher ihre Figuren mit skurrilem Witz vorstellt, gibt es auch immer wieder Gelegenheit zum Schmunzeln.
Wolfgang Hofmann kostet den Witz aus, sorgt mit sicherem Gespür für das richtige Maß zwischen Klamauk und Tragik. Wenn Gabi im Polizeirevier vom Mordanschlag ihres Freundes erzählt, Monika blutend in der Notaufnahme jammert oder Mira über ihr Dasein als Folge des »leichtfertigen Umgangs mit dem Erbgut« schimpft, kann man kräftig lachen und es gibt Zwischenapplaus.
Atmosphäre wie im Möbelhaus
Lars Peter hat für die Parade der Absonderlichkeiten einen perfekten Raum geschaffen. Dank einer Art Glaskasten bieten sich auf der Drehbühne immer wieder neue Einblicke. Pascal Thomas notiert als Finn auf das Glas Worte und Fakten aus seinem Leben, dem er selbst ein Ende setzt, und schreibt so förmlich selbst sein Dasein ab. Auch in den aufs Glas projizierten Nahaufnahmen bleibt er ein Unverstandener. Schicke Designerlampen und weiße Eames-Stuhlklassiker sorgen für eine sterile Atmosphäre wie in einem Möbelhaus, in dem die Akteure, allen voran das lächerlich auf Haltung bedachte Ehepaar Schmitt, wie Schaufensterpuppen wirken. Ein gemusterter Stoff findet sich in allen Kostümen der Schauspielerinnen wieder und unterstreicht die fehlende individuelle Note. Ein vom Bühnenhimmel kopfüber hängender Baum ragt in die Szene und weckt Assoziationen zur Entwurzelung der Figuren, aber auch zur Tatsache, dass deren Leben auf den Kopf gestellt wird – und wir dabei gnadenlos zusehen.
Die »Wunden, die Fortuna schlug« führt das Ensemble mit Genuss vor. Mirjam Sommer als frech-überdrehte Mira Halbe und Anne-Elise Minetti als würgeresistentes Mordversuchsopfer Gabi haben die Lacher auf ihrer Seite. Daniel Minetti und Carolin Weber zeigen sich als vom Leben und der Familie frustriertes Vater-Tochter-Gespann, Pascal Thomas schreibt sich als Selbstmörder Finn die Finger wund. Die karrierebesessene Verkäuferin Beatrice Bocca und der desillusionierte Polizist Lukas Goldbach haben in ihrer Ehe das Nebeneinanderherleben pervertiert und Kyra Lippler und Rainer Hustedt verkörpern mit Ironie das in Konventionen erstarrte Paar, dessen Leben durch die einstige Samenspende aus den Fugen gerät. Thomas Wild entpuppt sich als betrügerischer Rainer als wahrer Drecksack, Roman Kurtz macht sowohl als alternder Lover als auch als Leiche eine gute Figur und Petra Soltau hat als Ira, die erst nach Jahrzehnten ihren verschwundenen Ehemann vermisst, eine kurze, aber markante letzte Rolle.
Karola Schepp, 24.04.2017, Gießener Allgemeine Zeitung