Wer sich mit den griechischen Dichtern wie Aischylos, Euripides oder Sophokles befasst, stößt auf fremdartig anmutende Stoffe. Antiker Götterhimmel, Riten und Gebräuche scheinen weit weg zu sein. Nicht so die individuellen Motive des Dramenpersonals: Liebe, Schuld oder Verrat sind eben zeitlos. Mit seinem zeitgenössischen Stück „Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen“ gelingt es Wajdi Mouawad, diese Zeitlosigkeit des antiken Mythos im Hier und Jetzt herauszuarbeiten. Am Donnerstag hatte das Drama in der deutschsprachigen Version von Uli Menke im taT Premiere.
Montage wird großgeschrieben. Denn Mouawad montiert Teile von Tragödien aus den Federn von Aischylos, Euripides und Sophokles zu einem dichten Handlungsteppich. Regisseur Hüseyin Michael Cirpici bleibt diesem Ansatz treu: Er bringt das Gemachtsein von Theater auf die sehr fragmentarisch gestaltete Bühne, die im Grunde genommen nur einen großen Holzrahmen und die Gerätschaften umfasst, die Julia Klomfaß für die Livemusik braucht. Durch diese Bühnenoptik entsteht eine Art Werkstattatmosphäre, die sich noch dadurch verstärkt, dass die vorwiegend schlicht gekleideten Schauspieler die Rampe höchst selten verlassen und zumeist am Rand auf ihren Einsatz warten.
Nun könnte man sagen: Diese theatrale Selbstreferenz ist nichts Neues und spätestens seit postmodernen Tagen ein alter Hut. Doch bei Cirpici ist sie kein ästhetischer Selbstzweck: In bemerkenswerter Weise gelingt es ihm, den Montagecharakter des Textes räumlich und in der Optik seiner Inszenierung umzusetzen. Das ist beachtlich, gerade weil die antiken Motivkomplexe damit in einer Formsprache des 20. und 21. Jahrhunderts ihre Wirkmächtigkeit entfalten. Hut ab vor so viel inszenatorischer und dramaturgischer Intelligenz, die diese Formensprache quasi als Träger der Gegenwart geschickt mit der Historizität des klassischen Mythos in einem angemessenen konservativen Sprachgebrauch verbindet. Verbindungsglied zwischen damals und heute ist das Individuum, womit den Schauspielern in dieser Inszenierung die zentrale Aufgabe zukommt.
In wechselnden Rollen meistern sie sie mit Bravour. Allen voran Daniel Minetti, der derzeit am Stadttheater gastiert. Von der ersten Minute an merkt man dem äußerst erfahrenen Schauspieler seine große Klasse an, denn Minetti ist unglaublich präsent und dermaßen authentisch, dass er mit seiner jeweiligen Rolle verwachsen zu sein scheint. Genau diese Kraft braucht es, um Individualität auf die Rampe zu bringen. Carolin Weber jagt dagegen als Sphinx Schauer über die Publikumsrücken und macht gerade deshalb richtig Spaß. Und auch Lukas Goldbach und Maximilian Schmidt schlagen sich glänzend, indem auch sie ihren Figuren die nötige Tiefe geben, um sie als liebende und leidende Individuen zu profilieren.
Wirklich Altes wie die Geschichte von Ödipus erscheint in einem neuen Gewand. Dank des Sprachgebrauchs, der Geräuschkulisse und guter schauspielerischer Gesamtleistungen, allerdings ohne seine antiken Wurzeln verleugnen zu müssen. Im Gegenteil: Cirpici und die Seinen haben eine höchst verdienstvolle Synthese geschaffen, die die Verwurzelung individualistischer europäischer Zivilisation der Gegenwart in der griechischen Antike doppelt unterstreicht. Das ist Theater von seiner besten Seite und zugleich ein gelungener Auftakt für die neue Spielzeit. Prädikat: unbedingt ansehen!
Stephan Scholz, 10.09.2016, Gießener Anzeiger