Wie ein Sample antiker Tragödien rund um die Geschichte der Stadt Theben und ihrer Helden wirkt Wajdi Mouawads »Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen«. Im Theaterstudio bildet das Schauspiel einen eher sperrigen Auftakt der neuen Spielzeit im Stadttheater.
Dieses Stück muss sich der Zuschauer hart erarbeiten. Antikisierte Sprachwucht, ein Parforceritt durch Tragödien von Sophokles, Aischylos und Euripides und eine Inszenierung, die ganz auf die Sprache setzt und in ihrer Starrheit in großen Teilen an ein Live-Hörspiel erinnert: »Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen« fordert ungeteilte Aufmerksamkeit. Schließlich geht es hier um die ganz großen Menschheitsthemen wie Flucht und Begegnung mit dem Fremden, Krieg und Gewalt, Liebe und Hass. Und weil Autor Wajdi Mouawad die Lücken schließen will zwischen den Überlieferungen der Heldenepen um Thebengründer Kadmos und seine Nachfahren Laios, der durch Selbstsucht einen Fluch auf sein Geschlecht zieht, und dessen Sohn Ödipus, der zum Vatermörder und Mutterschänder wird, geht schnell verloren, wer im antiken Personenkatalog nicht halbwegs sattelfest ist. Sie alle sind »keine Götter, nur Menschen« – und in ihrem Menschsein wahre Monster.
Regisseur Hüseyin Michael Cirpici macht nicht den Fehler, das Stück zwanghaft ins Jetzt zu verlegen. Auch wenn Dramatiker Mouawad selbst als Kind aus dem Libanon geflohen ist und seine zentralen Themen Flucht, Vertreibung und Gewalt derzeit aktueller denn je sind – hier geht es nur unterschwellig um das Heute. Sätze wie »nichts ist schmerzhafter, als seine Heimat zu verlieren« oder Kadmos’ Visionen von der toleranten Stadt Theben klingen dennoch in unseren Ohren.
Doch Cirpici belässt die Figuren in einem zeitlosen Raum, den die durch simple Rahmen symbolisierten sieben Tore Thebens einfassen. Die Kostüme von Teresa Rinn sind, bis auf die Auftritte von Göttin Athene, der hasserfüllten Hippodameia oder der rätselversessenen Sphynx, betont zurückhaltend. Julia Klomfaß schafft live auf der Bühne mit elektronischen und akustischen Klängen eine Aura des ewig Gültigen. Kurze, wie Regieanweisungen wirkende Ansagen geleiten die Zuschauer von Part zu Part.
Die vier Schauspieler haben angesichts der wie Momentaufnahmen wirkenden Rollen und vor allem der wie übergestülpt wirkenden Sprache, kaum die Chance, in ihrem Spiel in die Tiefe zu gehen. Lukas Goldbach, der unter anderem den pädophilen Laios verkörpert, und Maximilian Schmidt, der sich als Kadmos und Öpipus um glaubhafte Darstellung tragischer Verzweiflung bemüht, fühlen sich erkennbar unwohl in den gedrechselten Sätzen. Ganz anders Gast Daniel Minetti, der als Vater der entführten Europa seine Söhne der Vergeltung willen in den sicheren Tod schickt oder als Pelops nach dem Tod seines Kindes Ziehsohn Laios und dessen Geschlecht verflucht. Seine Monologe sind wie in Stein gemeißelte Sätze, seine Darstellung selbst in Kürze auf dem Punkt. Es ist ein Genuss, ihm dabei zuzuschauen und vor allem zuzuhören.
Auch Carolin Weber ist sich der Urgewalt ihrer Figuren bewusst, setzt sie eindruckvoll in Szene. Immer wenn sie die Bühne betritt, dann sind Schlüsselfiguren der antiken Mythologie im Einsatz wie Göttin Athene, die von Licht und Nebel umwabert Kadmos zur Gründung Thebens aufruft, oder die grausame Sphynx, der noch – haarscharf überzeichnet – das Blut ihrer Opfer von den Lippen tropft.
Was bleibt, ist die Frage nach dem, was »Der Sonne und dem Tod kann man nicht ins Auge sehen« ausmacht. Ist es tatsächlich mehr als die Montage von Geschichten antiker Helden? Reichen knapp eineinhalb Stunden aus, um den vielleicht sogar schon durch die Entführung Europas ausgelösten Untergang der Zivilisation und die großen Themen der Menschheit zu erzählen? Und stehen kunstvoll geschmiedete Sätze nicht einem wirklichen Begreifen im Weg? Fragen, die die Inszenierung auf der taT-Studiobühne nicht wirklich befriedigend beantwortet.
Karola Schepp, 19.09.2016, Gießener Allgemeine Zeitung