Die Feen- und Ritteroper "Oberon", die Carl Maria von Weber (1786 bis 1826) wenige Wochen vor seinem Tod als Auftragswerk für Covent Garden komponierte, ist ein romantischer Schmachtfetzen, ein opulenter Bühnenschinken mit einer konfusen, haarsträubenden Handlung. Da muss man nicht lange fragen, warum das Werk inzwischen weitgehend aus den Spielplänen verschwunden ist. Der Gießener Generalmusikdirektor Michael Hofstetter hat sich davon nicht schrecken lassen und Webers letzte Oper nun in einer konzertanten Aufführung herausgebracht. Und siehe da, das Wagnis ist geglückt. "Oberon" erlebt unter seinen Händen eine klangprächtige, farbenreiche Wiedergabe, bei der etliche musikalische Perlen zu entdecken sind: eine triumphale Wiederentdeckung.
Leider war die Premiere am Samstagabend nicht gut besucht. Viele Sitze waren - aus welchen Gründen auch immer - leer geblieben. Doch die Zuhörer, die mit diesem "Oberon" in zweieinhalb Stunden Bekanntschaft machten, überschütteten am Ende alle Beteiligten minutenlang mit Beifall. Hofstetter war sich aber seiner Sache offenbar sicher und muss mit einer ähnlichen Publikumsreaktion gerechnet haben, denn die rundum aufgestellten Mikrofone zeigten an, dass der Abend für eine CD-Veröffentlichung aufgezeichnet wurde.
In "Oberon" entfaltet sich ein bunter, abenteuerlicher Reigen zwischen Ritterdrama, Shakespeares "Sommernachtstraum", "Sturm" und Tausendundeiner Nacht. Zauberische Kräfte sind am Werk, und das Geschehen pendelt zwischen Orient und Okzident, zwischen dem Feenreich Oberons, dem Frankenreich Karls des Großen, dem Kalifat des Harun al Raschid in Bagdad und dem Garten des Emirs von Tunis. Ausgehend von einem Konflikt zwischen dem Feenkönig Oberon und seiner Gemahlin Titania entspinnt sich eine wechselvolle Geschichte, in der sich ein Liebespaar - der fränkische Ritter Hüon und die Kalifentochter Rezia - bewähren muss.
Auch wenn Weber mit seinem letzten Werk nicht mehr an den Geniewurf des "Freischütz" anknüpfen konnte, so zeugt die Partitur doch von den inspiratorischen Kräften des Meisters. Hofstetter dirigiert voller Elan und Temperament, und das groß besetzte Philharmonische Orchester zeigt, dass schon die Ouvertüre der "Freischütz"-Ouvertüre durchaus ebenbürtig ist, ein Prachtstück romantischer Stimmungen. Sie beginnt mit dem aus weiter Ferne klingenden Zauberhorn, das in der Oper eine wichtige Rolle spielt. Naturhörner und Naturtrompeten kommen zum Einsatz, und es folgen duftig dahin huschende Klänge des Geister- und Elfenreichs. Eine besondere Bedeutung kommt dem Naturelement Ozean zu, der sowohl Glückverheißung als auch Lebensgefahr symbolisiert und dem Komponisten Gelegenheit zu atmosphärisch dichter Schilderung gibt. Großartig ist die Sturmszene mit den tobenden Naturgewalten; in zarten, geheimnisvollen Farben scheint das orientalische Kolorit auf. Hofstetter und das Philharmonische Orchester glänzen insgesamt mit einer nuancen- und spannungsreichen Wiedergabe zwischen romantischen Gefühlen und klugem Maßhalten.
Erzähler eingefügt
Größter Schwachpunkt ist jedoch die Textvorlage, die man einem Publikum heutzutage einfach nicht mehr zumuten kann. Da aber der Sinnzusammenhang ohne Text nicht zu verstehen ist, hat man sich in Gießen dazu entschlossen, einen Erzähler einzufügen. Für diese Aufgabe hätte man keinen Besseren als Roman Kurtz finden können. Der Schauspieler, der sich schon oft als hervorragender Sprecher erwiesen hat, verbindet mit seinen kurzen Beiträgen die einzelnen Musiknummern und gibt dem Ganzen dramaturgisch Halt und Struktur.
Glänzende Solisten
In der Titelpartie macht Haustenor Clemens Kerschbaumer eine ausgezeichnete Figur. Mit beweglicher Stimme meistert er die Extreme dieser Partie, lässt expressive Kraft und lyrische Glut aufblitzen.
Als Hüon ist der Tenor Wolfgang Schwaninger vom Gärtnerplatztheater in München zu erleben. Er ist sehr kurzfristig, nämlich nur zwei Tage vor der Premiere, für den erkrankten Mirko Roschkowski eingesprungen. In seinen Gesängen lebt sich der ritterliche Zug in Webers Musik voll aus, und Schwaningers Hüon strahlt mit heller, kerniger Stimme heldenhafte Stärke aus.
Dorothea Maria Marx, die zur Spielzeiteröffnung eine großartige Violetta in Verdis "La Traviata" bot, hat sich vor der Vorstellung durch Intendantin Cathérine Miville entschuldigen lassen, ihre Stimme sei durch eine Erkältung angegriffen. Mit leidenschaftlichen Ausdruck, kraftvollem Elan und funkelnden Spitzentönen bewies die Sopranistin aber dann als Rezia, dass sie sich nicht unterkriegen lässt: ausdrucksstark und voller Intensität ihre Ozean-Arie, in der Natur- und Seelenschilderung verschmelzen; bezaubernd ihr Duett "O welches Glück" mit Marie Seidler als Fatime. Wenn Marie Seidler mit ihrem schönen Mezzosopran Fatimes Heimat Arabien besingt, tut sie dies mit einer Mischung aus Liebreiz, leiser Melancholie und einem Schuss Keckheit. Grga Peros (Scherasmin), Karola Pavone (Meermädchen) und der Countertenor Dmitry Egorov als Puck runden das positive Gesamtbild der Aufführung ab. Dazu trägt natürlich auch wieder der gut disponierte Chor des Stadttheaters bei, der den Feen, Haremsmädchen und Sklaven Stimmen gibt.
Thomas Schmitz-Albohn, 19.12.2016, Gießener Anzeiger