Ensemble des Stadttheaters brilliert bei der Premiere von Roland Schimmelpfennigs Schauspiel „100 Songs“/ Liebevolle Details
Ein durchdringender Pfiff, Rauch dringt auf die leere Bühne des Stadttheaters, einer nach dem anderen kommen die Mitwirkenden aus dem Hintergrund hervor, betreten das Metallgerüst im Vordergrund – und schweigen. Ratlosigkeit macht sich breit: Wo sind sie hier? Leben diese zehn Menschen noch oder haben sie schon den Erinnerungsraum nach dem Tod betreten? Irgendwoher klingt leise Musik herüber. Ist das schon einer der „100 Songs“, nach denen der bekannte Dramatiker Roland Schimmelpfennig 2018 sein Schauspiel benannt hat?
Ein ergreifendes Stück, alle Ensemblemitglieder und Gäste haben sich hochambitioniert ans Werk gemacht, um etwas von der Stimmung an jenem schicksalsträchtigen Morgen um 8.55 Uhr bis in die letzte Reihe im Parkett hinein zu übertragen.
Roland Schimmelpfennig erzählt in Texten und Musik von den Opfern eines Selbstmordattentats. Die Anzahl der Personen wird im Einzelnen nicht aufgelistet, die zehn Ensemblemitglieder präsentieren sich in mehreren Rollen, in jeder einzelnen überzeugend und glaubwürdig. Regisseur Jan Langenheim kennt den Autor noch aus Jugendtagen und vertraut darauf, seine Ideen von Theater gut umsetzen zu können. Er legt den Fokus auf die Musikalität des Textes, der fast wie eine Partitur zusammengestellt ist, die Motive wiederholen und verstärken sich, schieben sich übereinander. Eine fortlaufende Handlung sucht der Zuschauer vergebens, das Geschehen endet immer wieder nach vier Minuten, um unmittelbar darauf von Neuem zu beginnen, in einer anderen Perspektive.
Das sind jene alles bestimmenden Minuten von 8.52 bis 8.55 Uhr: Um 8.52 Uhr fährt der Regionalzug ein, der Bahnsteig ist gefüllt mit Reisenden (nicht umsonst ist der Song „Passenger“ von Iggy Pop auf der Playlist). Da ist jener Mann (Roman Kurtz), der aus dem Fenster eines benachbarten Hauses auf die Schienen blickt. Was tut er da? Die Menschen auf dem Bahngleis, die auch selbst die Moderatoren des Geschehens sind, können sich nicht einigen. Da taucht auch noch die Frage auf: Was ist dein Lieblingssong? Auch da gehen die Meinungen weit auseinander, denn auf dem Bahnsteig sind die verschiedensten Menschen versammelt. „Eine Gruppe von Männern und Frauen“, heißt es ganz lapidar. Touristen sind dabei (wissbegierig: Paula Schrötter mit Reiseführer und Landkarte), zwei Personen, die zu einem Bewerbungsgespräch unterwegs sind, ein Paar, das sich zu Hause noch in der Morgensonne geliebt hat, ein Mann, der einen bösen Streit mit seiner Frau hinter sich hat. Ganz normale Menschen also, mit ihren alltäglichen Wünschen und Sorgen. Das Mädchen mit den schwarz umrandeten Augen ist dabei, die schwarze Elfe (Johanna Malecki), ein Pfarrer, der in Kind beerdigen muss (Stephan Hirschpointner). Eine der Rollen, die Carolin Weber nonchalant vorstellt, ist die einer gläubigen Stripperin, die sich offen zu ihrer Profession und ihrem Glauben bekennt. Die Mehrfachbesetzungen gelingen auch ohne hektischen Kostümtausch: Tom Wild ist zugleich ein Geschäftsmann in mittleren Jahren und ein 17-jähriges Mädchen, das gern Friseurin werden will. Köstlich, das Stück hat auch seine heiteren Seiten.
Und dann am Rande die Kellnerin Sally aus dem Bahnhofsrestaurant, die im entscheidenden Moment eine Tasse fallen lässt. Ihr Lieblingslied ist „Bette Davis Eyes“, und das singt die Schauspielerin Anne-Elise Minetti allein auf der Bühne, während ihr das Blut übers Gesicht läuft. Eine bewegende Szene, die schnell wieder im Trubel der Ereignisse verschwindet. Ein Mann im Zug (Lukas Goldbach), sieht die Kellnerin durch die Fensterscheiben an, bewundert ihre blauen Augen. Neben ihm im Zug sitzt jener langhaarige junge Mann (Magnus Pflüger), der in einem arabischen Text liest, und sich doch nicht konzentrieren kann. Er hat sich am Abend zuvor in eine junge Frau verliebt und nun ist alles wieder offen.
Nein, 100 Songs sind es nun doch nicht, die da im Stück präsentiert werden, aber doch immerhin 24, zum Teil in Minischnipseln, sodass sie von den Zuhörern kaum erkannt werden. An einer Stelle singen Akteure gleichzeitig völlig unterschiedliche Songs, im Hintergrund dröhnen dazu die Lautsprecher. Der musikalische Leiter Thies Mynther setzt die Playlist aus bekannten Popsongs, einzelnen Klassikeinspielungen und Eigenkompositionen zu einer atmosphärischen Klangcollage zusammen. Die Lieder beschreiben die Stimmungen und das Lebensgefühl der Menschen.
„Kennst du das, wenn du das Radio anmachst und da läuft da dieser Song, und du musst einfach lächeln“, beschreibt es einer der Reisenden (Pascal Thomas) auf dem Bahnsteig. Alle sind einverstanden und warten weiter auf den Zug, ein grüner Kopfhörer wandert von einem zum andern. Der Kopfhörer, eines von vielen gelungenen kleinen Details. Auch der große Bühnenentwurf von Anja Jungheinrich stimmt. Das Metallgerüst, das als Bahnsteig, Waggon oder Lebenslinie dienen kann, Treppen führen in den Bühnenhintergrund, von wo aus immer wieder die Reisenden hoffnungsfroh oder schon mit ersten Blessuren auftauchen. Von oben schweben Lautsprecher verschiedenster Bauart und Größe auf die Spielebene herab und machen klar: Die Erinnerungen hängen in vielen Fällen auch von den akustischen Eindrücken ab.
Das Stück „100 Songs“ hat Roland Schimmelpfennig als Auftragsarbeit für das Landestheater Örebro in Schweden geschrieben, und so sind auch die zahlreichen Reminiszenzen an das Land in Skandinavien zu verstehen. Gleich am Anfang sieht einer der Beteiligten einen riesigen Sleipnir am Himmel, das achtbeinige Pferd Odins, der unter den Menschen Angst und Schrecken auslöst. Natürlich darf auch das Lied „Hey, Pippi Langstrumpf“ auf der Playlist nicht fehlen.
Ansonsten hat das Schauspiel wenig mit Schweden zu tun, sondern zeigt den universellen Schrecken. Roland Schimmelpfennig gelingt es, zugleich düster und doch zuweilen leicht die letzten Minuten der Opfer darzustellen. Bis zum Schluss bleibt alles in Schwebe, die Kaffeetasse fällt nicht zu Boden, ist es vielleicht doch gelungen, das Unheil zu verhindern? Freundlicher Beifall des Premierenpublikums im Großen Haus, das besonders von der grandiosen Leistung der Schauspieler in wechselnden Rollen angetan war.
Ulla Hahn-Grimm, 18.11.2019, Gießener Anzeiger