Dirigent Rubén Dubrovsky hat russische Musik im Gepäck. Cellist Christoph Stradner präsentiert den kaum bekannten Weinberg. Doch das Sinfoniekonzert im Stadttheater glänzt besonders mit Schostakowitsch.
Zweimal Schostakowitsch in drei Tagen. Das gibt es nicht oft im Stadttheater. Während die Tanzcompagnie am Sonntag zu orchestralen Ballett- und Filmmusiken des Russen gehaltvolle Tableaus fürs Auge bot, kommt beim Sinfoniekonzert am Dienstag dessen 1. Sinfonie zu Gehör. Dirigent Rubén Dubrovsky hat zudem zwei Werke von Mieczyslaw Weinberg im Gepäck. Er führt lässig im roten Hemd über der schwarzen Hose das gut aufgelegte Philharmonische Orchester Gießen durch die Partituren. Dubrovsky steht zum dritten Mal innerhalb zweier Spielzeiten am Pult.
Während Dmitri Schostakowitsch (1906 - 1975) als einer der größten russischen Sinfoniker gilt, hat die Wiederentdeckung des 13 Jahre jüngeren Weinbergs (1919 - 1996) erst vor Kurzem begonnen. Als Sohn eines jüdischen Musikers in Warschau geboren, leidet Weinberg unter dem Einfluss von Antisemitismus und Stalinismus. 1939 flieht er vor den Nazis, erst nach Minsk, später nach Moskau. Glücklich wird er dort nicht. Als Schostakowitsch-Freund und -Epigone von der Staatsmacht gerügt, steht er zeit seines Lebens unter Beobachtung.
Weinbergs melodienreiche "Rhapsodie über moldawische Themen" zum Auftakt zieht immer dann in Bann, wenn sie nicht lustig sein will. Der Komponist neigt jedoch neben seiner russischen Melancholie auch zur humoristischen Phrase, was dem Klangcharakter einige Spitzen verleiht. Das Orchester bleibt weitgehend nüchtern bei der Sache, Dubrovsky gibt ein schnelles Tempo vor, das Publikum spendet reichlich Beifall.
Im Anschluss der zweite Weinberg des Abends: das Konzert für Violoncello und Orchester op. 43. Christoph Stradner, Erster Solocellist der Wiener Symphoniker, zeigt auf seiner Stradivari (der Meister baute nicht nur Geigen, sondern auch Celli) aus dem Jahr 1680 in den vier Sätzen Präzision und Feingefühl. Bisweilen wirkt es so, als wolle der Österreicher alles zu perfekt gestalten.
Dann klingt seine Interpretation der auch physisch anspruchsvollen Komposition beinahe brav, fehlt ein wenig die fordernde Dynamik, die der elegische Russe seinem Solisten abverlangt. Das Orchester begleitet eindringlich. Dennoch wirkt das expressive Stück akademisch gespreizt. Als Zugabe spielt Stradner die getragene Sarabande aus der 5. Cello-Suite von Johann Sebastian Bach.
Seine 1. Sinfonie f-Moll op. 10 legt Schostakowitsch im Alter von 19 Jahren dem Konservatorium in Leningrad als Abschlussarbeit vor - und damit den Grundstein für sein späteres Schaffen. Das Allegro, nicht wie zu erwarten der erste, sondern der zweite Satz, hält alle Zutaten bereit, die den Komponisten später berühmt machen: gewaltiger Sound trifft auf (noch nicht ganz so ausgeprägte) Opulenz, Rhythmus und dieses fesselnde Filmmusikhafte, das dem Russen innewohnt, der in jungen Jahren zu den Stummfilmen im Kino ein ums andere Mal das Piano bediente, um sein Studium zu finanzieren. Und natürlich klingt alles ein wenig nach Strawinsky und Prokofjew.
Schostakowitsch reicht die Themen freundlich durch die Instrumentengruppen, ehe er Klangkaskaden erbaut, die wie einstürzende Neubauten zerstäuben, um danach aus der eigene Asche wiederaufzuerstehen zu neuem Glanz. Das hat Finesse und Drive. Beides fängt das Orchester unter Dubrovskys vehementem Dirigat spannungsvoll ein. 1. Konzertmeister Jiri Burian glänzt in kleinen Violinsoli ebenso wie Gottfried Köll an der Oboe und Attila Hündöl am Cello. Seinen Blumenstrauß reicht Dubrovsky im nicht enden wollenden Schlussapplaus an Soloflötistin Carol Brown weiter.
Manfred Merz, 03.10.2019, Gießener Allgemeine Zeitung