Im Gießener Stadttheater erzählen 30 Menschen die Geschichte ihres 9. November.
Die Wiedervereinigung fand 2004 in Wetzlar statt. 1989 war sie in Kreuzberg noch Science Fiction und in der Lausitz bloß absurde Spinnerei. Auf der Westseite des Eisernen Vorhangs arbeitete Andreas Odrich seinerzeit als Radioreporter, östlich davon war Heiko Brattig "Bausoldat" der NVA. Dass beide am Samstagabend im Gießener Stadttheater kurz nacheinander auf der Bühne stehen, ist natürlich ein Wunder der Geschichte. Außerdem ist es eine gute Geschichte, die sich wunderbar in ein eindrucksvolles und berührendes Kaleidoskop von Erlebnissen fügt.
"30 Menschen, 30 Momente, 30 Erinnerungen" heißt das Motto. Und alles kreist um das deutsche Datum schlechthin: den 9. November. Auf den Tag genau drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall berichten die meisten über eben diesen historischen Augenblick. Den Anfang macht Reinhard Beyer. Er traf nachts von einem Ausflug zu Hause in Aachen ein. Kurz nach 1 Uhr flimmerte noch einmal der Campingfernseher. "Aber er flimmerte irgendwie anders." Um 2 hörte Beyer dann die unfassbare Nachricht - "und am nächsten Morgen war die Welt eine andere."
Die Überraschung spielt in vielen Erzählungen eine Rolle, in denen auf der Bühne wie in jenen aus dem Off. 15 Menschen treten live auf, 15 weitere Statements kommen vom Band. Jeder Beitrag dauert rund drei Minuten. Eine Frau weilte gerade bei einem Motorsport-Event in NRW, ein Mann mit befreundeten Musikern auf Tour. In London fühlte sich jemand ziemlich weit weg und doch plötzlich ganz nah, im Schwarzwald eine frühere DDR-Bürgerin anfangs auch ein wenig unwohl.
Als Verbindung zu den Ereignissen haben alle Zeitzeugen einen Gegenstand mitgebracht. Da wäre etwa der Auszug aus einer Stasiakte. Gitta Wied verbindet Furchtbares mit dem Papier. Am 9. November 1989 war sie in einer Bad Homburger Buchhandlung beschäftigt, also längst im Westen. Dennoch sitzt der Stachel bis heute tief: "Mein eigener Bruder hat mich an die Stasi verraten." Zur historischen Wahrheit gehört freilich immer die Ambivalenz. "Ein bisschen Wehmut" habe das Ende der DDR nämlich auch geweckt, meint die gebürtige Ostdeutsche. Wegen alltäglicher Dinge jenseits des staatlichen Unrechts, die "gar nicht so schlecht" gewesen seien.
Nicht alle Geschichten behandeln den weltbekannten Mauerfall. Maren erzählt zum Beispiel etwas ganz anderes. Vor elf Jahren habe sie im Stadttheater eine Kollegin kennengelernt, die heute ihre beste Freundin sei. Spontaner Antipathie folgte Skepsis, später Zuneigung, dann echte Freundschaft. Auch dies ein Mauerfall, nur eben anders: "Sie hat auf jeden Fall meine Mauer eingerissen", sagt Maren. Bei dem gebürtigen Marokkaner Tarik Mouhib steht der November indes für die Ankunft in Deutschland. Sozusagen den umgekehrten Weg nahm eine DDR-Bürgerin, die "rübermachte" und lange für die deutsche Botschaft in Tripolis tätig war.
Und Andreas Odrich und Heiko Brattig? Wussten noch nichts voneinander, als die Mauer fiel. Odrich war in jenen Tagen hautnah dabei, Brattig ein gutes Stück entfernt. Bereits 1990 arbeiteten beide als Kollegen beim Radio in Berlin. Fünf Jahre später wechselte Brattig zu ERF Medien nach Wetzlar, Odrich folgte 2004. So wurde Mittelhessen zum Schauplatz einer kollegialen Wiedervereinigung. Sie geschah zwar nicht am 9. November. Nur: Ohne den 9. November wäre sie wahrscheinlich nie geschehen.
Christian Schneebeck, 11.11.2019, Gießener Allgemeine Zeitung