Wie schreibt man über einen Terroranschlag? Wie kann man das Unfassbare in Worte fassen? Dramatiker Roland Schimmelpfennig versucht es mit Liedern und genauer Beobachtung der wenigen Minuten davor. Sein Stück »100 Songs« hatte am Samstag Premiere im Großen Haus.
Am Anfang ist Rauch. Dann lange Schweigen. Und dann folgen Lieder und Geschichten, die das Grauen zwar nicht begreifbar, aber die Erinnerung an das, was brutal zerstört wurde, lebendig machen. Roland Schimmelpfennigs am Stadttheater als zweite deutsche Aufführung zu sehendes Stück »100 Songs« hat die vier Minuten vor einer Explosion auf einem namenlosen Bahnsteig im Blick, der eine Gruppe ganz alltäglicher Menschen das Leben kostet.
Dass es sich um ein Attentat handeln könnte, spielt nicht wirklich eine Rolle, wird in der Schlussszene sogar ad absurdum geführt. Vielmehr geht es dem Dramatiker um die Menschen, deren Träume und Sorgen, deren Wünsche und Bedauern über verpasste Chancen von einer Sekunde auf die andere enden, weil ihre Welt »zerreisst«.
Woran haben die Männer und Frauen in den vier Minuten zuvor gedacht? Welche Lieder hatten sie im Kopf? Was war der Soundtrack ihres Lebens? »100 Songs« erzählt davon in fast nüchterner Beschreibung und mit einem Text, der wie in der Musik mit wiederkehrenden Motiven spielt. Dass die Geschichte nicht linear angelegt ist, und vor allem das mögliche Attentat nur vage angedeutet wird, erschwert allerdings ein wenig das Verständnis.
Songs, die jeder kennt
Jan Langenheim inszeniert das Stück seines Freundes Schimmelpfennig mit Sinn für die Komposition des Textes und einem durchaus sinnlichen Vergnügen am Zuhören und Zuschauen. Motive wie die vor Schreck fallengelassene Tasse der Kellnerin oder das Bild der (apokalyptischen) Reiter tauchen immer wieder auf. Die nüchtern erzählend wirkende, aber minutengenaue Beschreibung dessen, was sich auf dem von Anja Jungheinrich mit Bahnsteigkante, Drehbühne im Hintergrund und 40 hängenden Lautsprechern gestalteten Bühne abspielt, springt in Zeit und Personal permanent hin und her. Am Ende verweben sich die Geschichten der Menschen in immer neuen Konstellationen. Der Einzelne wird als Teil eines großen Ganzen begreifbar. Dass mit einem Schlag nicht nur ein Leben, sondern das Leben an sich ausgelöscht wird, wird deutlich.
Sounddesigner Thies Mynther lässt die Zuschauer in die Köpfe der Menschen horchen, bringt ihre Lieblingslieder zum den Saal füllenden Klingen. Es sind überwiegend Popsongs, die sich ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben und die das Publikum sofort erkennt: »Passenger« von Iggy Pop, »Bette Davis Eyes« von Kim Carnes, »Road to nowhere« von den Talking Heads oder »Don’t dream it’s over« von Crowded House. Es sind zwar bei weitem nicht die im Titel angekündigten »100 Songs«, aber dennoch viele - und sogar noch ein von Mynther selbst komponierter. Mit jedem Lied, auch wenn es nur kurz erwähnt wird, taucht die Geschichte der Menschen, die gerade diesen Song als Ohrwurm haben, aus dem Nebel der Erinnerung auf. Der Pfarrer, der auf dem Weg zu einer Beerdigung sein Gottvertrauen verliert; der Mann, der sich mit seiner Frau zerstritten hat; die Stripperin, die auf dem Weg nach Hause zu ihrem Sohn ist - sie alle zeigen, wie wichtig noch so banal klingende Entscheidungen für unser Leben sind und wie kostbar das Leben an sich ist.
Dem fast komplett auf dem Bahnsteig versammelten Schauspiel-Ensemble gelingt das Kunststück, das Warten am Bahnsteig nicht zum Stehtheater werden zu lassen und die Figuren mit kurzen Auftritten auf den Punkt zu bringen: Johanna Malecki als düster geschminkte Studentin, Anne-Elise Minetti als schreckhafte Kellnerin oder langweilige Verwaltungsangestellte, Paula Schrötter als Landvermesserin und streitende Ehefrau, Carolin Weber als Stripperin und heimliche Geliebte, Lukas Goldbach als sich verliebender Attentäter, Pascal Thomas als frustrierter Ehemann, Stephan Hirschpointner als verpeilter Student und Nachtclubbesucher, Magnus Pflüger als reicher Alter und zaudernder Pfarrer, Roman Kurtz als cooler Beobachter und Tom Wild als vom Sex am Morgen beseelter Mann oder mädchenhafter Friseurazubi - sie alle hätten sich etwas enthusiastischeren Beifall verdient.
Karola Schepp, 18.11.2019, Gießener Allgemeine Zeitung