75 Jahre nach Bombennacht in Gießen erinnerte Stadttheater mit Konzert in früherer Notkirche Pankratiuskapelle an Tod und Zerstörung
6. Dezember 1944: Bei einem Bombenangriff der Alliierten wurden weite Teile der Gießener Innenstadt in Schutt und Asche gelegt. Zerstört wurden auch die Gebäude rund um Kirchenplatz und Marktplatz. Von der Stadtkirche blieben nur Reste übrig. Als eine Art Notkapelle wurde in den ersten Nachkriegsjahren die Pankratiuskapelle errichtet, jener Ort, an dem nun am Freitagabend Musiker des Philharmonischen Orchesters, Sänger und Schauspieler des Stadttheaters Gießen ein Gedenkkonzert aufführten.
An jenen Abend vor 75 Jahren, an dem über 400 Menschen in Gießen ihr Leben verloren hatten, erinnerte auch eine Lesung von Schülern der Brüder-Grimm-Schule. Sie stellten beeindruckende Texte vor: Acht- bis zehnjährige Kinder schilderten darin, wie sie gerade noch einmal davongekommen waren, aber mit ansehen mussten, wie ringsum Eltern, Geschwister und Freunde starben. Eine Schülerin las ein selbst verfasstes Gedicht zum Thema „Frieden“ vor.
„Frieden“ war auch das alles umfassende Thema des folgenden zweistündigen Gedenkabends. Die Arie „Schlummert ein“ (BWV 82 Nr. 3) von Johann Sebastian Bach, vorgetragen von Grga Peros (Bariton) und Christoph Koerber (Orgel), erinnerte die Menschen an Zerstörung und Wiederaufbau, Verlust und Hoffnung. Eine weitere gefühlvoll intonierte Bach-Sonate sowie eine anspruchsvolle Serenade von Wolfgang Amadeus Mozart für Bläseroktett setzten die musikalischen Akzente des ersten Teils. Unvergesslich bleibt der Vortrag des Sopranisten Samuel Marino, der zusammen mit Evgeni Ganev eine Arie aus Händels Oper „Giulio Cesare“ vorstellte. Marino und Ganev gestalteten auch zum Abschluss „Ave Maria“. Das Lied ist weltweit bekannt, doch mit der hohen Stimme eines Mannes vorgetragen dennoch ganz ungewohnt.
Ein Konzert der Besinnung auf Frieden und Toleranz – gestaltet von Menschen zahlreicher Nationalitäten und verschiedener Generationen mit Musik und Texten: Im zweiten Teil waren Kompositionen von Samuel Barber, Anton Bruckner, David Popper und John Williams zu hören. Mit der bewegenden Arie „Ich folge dir gleichfalls“ von Barock Altmeister Johann Sebastian Bach setzte Sopranistin Naora Intxausti ein kleines Glanzlicht. Auf hohem Niveau präsentierte sich der Chor des Stadttheaters mit einem zutiefst romantischen Stück von Anton Bruckner.
Text von Charlie Chaplin
Eine wunderbare Abrundung erfuhr die Gedenkfeier durch den Vortrag literarischer Texte: Tom Wild stellte einen Text von keinem Geringeren als Charlie Chaplin vor: „Als ich mich selbst zu lieben begann“. Gleich drei Autoren hatte Carolin Weber in ihre Rezitation aufgenommen: Hanns Dieter Hüsch, Rudolf Steiner und Wilhelm Busch: Allen gemeinsam war die Liebe zur Harmonie und die Ächtung des Krieges. „Man braucht den Frieden“ lautete das Motto, unter dem Anne-Elise Minetti Texte aus China, einen Text der Navajos und ein Gedicht von Pablo Neruda vorstellte.
Schließlich noch Roman Kurtz: Der Schauspieler hatte eine Reihe von „Friedenssplittern“ aus Liedern und Gedichten gesammelt. Eine Collage, die nachdenklich stimmte. Das Publikum war beeindruckt.
Als Mitglieder des Interreligiösen Rates in Gießen trugen Abderrahim En-Nosse, Klaus Weißgerber und Lawrence de Donges-Amiss-Amiss zum Abschluss des denkwürdigen Konzertes noch einige Gebete zum Frieden vor.
Das Gedenkkonzert bildet den Abschluss der kleinen Reihe von Sonderveranstaltungen unter dem Titel „Drei Tage, drei Ereignisse, eine Verantwortung“, mit denen das Stadttheater Gießen auf ganz unterschiedliche Weise an denkwürdige historische Ereignisse erinnert. Der Abschluss folgt am 6. Februar mit einer Mahnung an die Zukunft. Die Einnahmen der Veranstaltung kommen der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik zugute.
Ursula Hahn-Grimm, 09.12.2019, Gießener Anzeiger