Das Sinfoniekonzert im Stadttheater glänzt über weite Strecken. Gastdirigent Eraldo Salmieri entführt in die frühe Moderne. Konzertmeister Ivan Krastev zeigt an der Violine sein Können als Solist.
Als unbedarfter Beobachter hätte man meinen können, da dirigiert der neue Generalmusikdirektor. So wie das Orchester auf seine Gesten reagiert, so wie der Maestro Impulse setzt, sieht das alles nach großer Disziplin bei gleichzeitigem Wohlbefinden aus. Offiziell ist Eraldo Salmieri freilich nur "ein gern gesehener Gast", wie es in der Ankündigung des Stadttheaters zum Sinfoniekonzert am Dienstagabend heißt.
Und ein Gast hat womöglich nicht immer genügend Zeit, alles bis ins kleinste Detail einzustudieren. Das zeigt sich nach der Pause bei Maurice Ravels "La Valse". Unter den Eindrücken des Ersten Weltkriegs schuf der Komponist 1920 eine Tondichtung, die den Walzer eher persifliert als verehrt. Das Stück lebt von pulsierenden Crescendi, nur angedeuteter Glückseligkeit im Dreivierteltakt und abrupten Betonungen. Das Philharmonische Orchester Gießen bleibt bei diesem Ravel zu brav. Es mangelt am Schwelgerischen, am Diabolischen, und selbst das kulminierende, ja eigentlich euphorische Finale wirkt wie vom Blatt gespielt.
Dass es deutlich besser geht, demonstriert zum Abschluss Igor Strawinskys Ballettmusik "Der Feuervogel" von 1910. Das Orchester fängt den spätromantisch-impressionistischen Duktus des Werks mitsamt seiner Poesie ein und lässt die Geschichte um den Prinzen, der mithilfe des Feuervogels einen bösen Zauberer besiegt, auch ohne Tänzer plastisch werden. Salmieri führt das Orchester mit strikter Hand, variiert gekonnt die Lautstärke, lässt Akkorde krachen. Die Soli in den Instrumentengruppen blitzen auf wie frisch polierte Diamanten. Dieser "Feuervogel" steigt in höchste Höhen auf. Nicht enden wollender Schlussapplaus vom Großen Haus.
Gleich zu Beginn des Abends ein Paukenschlag. Als Überraschung im Aufgebot steht der heute weithin unbekannte bulgarische Komponist Pantscho Wladigerow. Das erste Violinkonzert f-Moll op. 11, 1921 in Berlin uraufgeführt, interpretiert diesmal nicht ein angereister Solist, sondern der 2. Konzertmeister des Orchesters, Ivan Krastev.
Die drei Sätze, die attacca, ohne Pause, gespielt werden, bewegen sich stilistisch weitgehend im tonalen Raum. Wladigerow webt reichlich Filmmusikmuster unter, zeigt Ecken und Kanten, um dann plötzlich Richard-Strauss-Hörner zu zelebrieren. Das hat seinen Reiz. Salmieri führt das Orchester gediegen, ohne Eile. Solist Krastev musiziert mit Chuzpe. Er wird der technisch anspruchsvollen Partitur gerecht und interpretiert sie im Sinne seines Heimatlandes. Der Virtuose meistert die Untiefen, fängt das Aufbrausende ein und ist sichtlich in seinem Element.
Quasi als im Programm aufgeführte Zugabe serviert der Geiger im Anschluss mit den Streichern und der Harfe, die von Hye-Jin Kang seidig und präzise bedient wird, das "Notturno" des 22-jährigen Arnold Schönberg aus dem Jahr 1896. Damals wusste der gebürtige Wiener noch nichts von seiner Zwölftonmusik. Elegant zieht die knapp vierminütige Arbeit ihre kleine nächtliche Traumbahn.
Manfred Merz, 06.11.2019, Gießener Allgemeine Zeitung