Schauspiel für Publikum ab zehn Jahren: „Moby Dick“erzählt auf der taT-Studiobühne von einer jungen Weltenretterin
Einfach mal die Welt retten – das sagt und singt sich so leicht. Doch was bleibt einem schon anderes übrig, wenn man als cleveres Mädchen aus seinem kleinen Zimmerfenster auf die Welt schaut, die so öde, karg und nachtschwarz vor einem liegt? Also macht sie sich eben selbst auf den Weg nach Draußen und ins Ungewisse, um die Zukunft nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Nein, es handelt sich hier nicht um Greta Thunberg, die in diesem Theaterstück für Kinder ab zehn Jahren eine aufgeweckte junge Heldin abgibt. Aber fast. Denn das Mädchen trägt nicht nur den bezeichnenden (und nur einen Buchstaben vertauschenden) englischen Vornamen Great – sie würde sich auch charakterlich bestens mit der jungen Aktivistin verstehen, die sich gerade so vehement für eine lebenswerte Erde einsetzt.
Lose Motive
„Moby Dick“ lautet das von Andreas Mihan konzipierte „Schauspiel mit Objekten“, wie es im Untertitel heißt. Doch mit dem im Jahr 1851 von US-Schriftsteller Herman Melville erdachten Walfänger Ahab und dessen Rachefeldzug über die Weltmeere hat diese Inszenierung nur entfernt zu tun. Der Berliner Gast-Regisseur hat seine Geschichte in das Jahr 2055 verlegt – und das sieht reichlich deprimierend aus. Es gibt keine Tiere, Wiesen und Wälder mehr. Menschen leben nur noch vereinzelt vor sich hin, denn die Klimakrise hat den gesamten Planeten verwüstet, erzählt die junge Great (Esra Schreier) gleich zu Beginn des rund einstündigen Stücks. Und so haust auch sie alleine in ihrem kleinen Gewächshaus, in dessen Laborküche (Bühne und Kostüme: Christine Ruynat) sie den Geheimnissen des Lebens mit Fläschchen, Röhrchen und platzenden Luftballons experimentierend auf die Spur zu kommen sucht.
Denn die Mutter ist verschwunden, und der Vater (David Moorbach) treibt sich in einem Schlauchboot auf hoher See herum, weil der weiße Wal „Moby Dick“ vermeintlich für deren ungewisses Schicksal verantwortlich ist. Nur per altmodischem Kabel-Telefon hält die einsame Great mit ihm Kontakt, ihre Nöte kann sie dem gleichermaßen rachsüchtigen wie ängstlichen Mann dabei aber nicht verständlich machen.
Zumal er ihr als typischer Vertreter der Helikopter-Elternfraktion einen überaufmerksamen Aufpasser an die Seite gestellt hat: den Roboter Holoraum. Der war mal ein „Saftarm“ und mischt sich nun – geschickt gelenkt und schön abgehackt über ein Mikrofon gesprochen von David Moorbach – mit seinem aufdringlichen Objektiv in das Leben des Mädchens ein. Und so geht es im ersten Teil dieser Geschichte vor allem darum, den mechanisch-kalten Quälgeist auszutricksen, bevor Great den Mut fasst, sich über dessen Verbote hinwegzusetzen und jenseits ihres Zimmers selbst „nach einem Freund“, vor allem aber „nach dem Leben“ selbst zu suchen“ das ihr dieser Holoraum nicht ersetzen kann.
So erweist sich der einstige Student der Angewandten Theaterwissenschaft Mihan hier nach seinem zuletzt auf der Studiobühne für die ganz kleinen Zuschauer konzipierten „Totenerweckungssüppchen“ erneut als fantasievoller Theatermacher, der mit seinen Geschichten geschickt fremde, ferne und schräg-bizzare Welten entstehen lässt. Als freundlicher Fisch etwa geht auf der Studiobühne ein großer weißer Luftballon durch, der wie einst die Erdkugel bei Charlie Chaplins „Großen Diktator“ elegant schwebend über die Arme von Darstellerin Esra Schreier tanzt.
Überhaupt hat das Schauspielduo offensichtlich viel Spaß daran, der dunkel getönten Geschichte Leben einzuhauchen und sein Publikum in die abstrakten Zukunftswelten mitzunehmen. Hinzu kommen raumfüllende Toneffekte, die immer wieder das schwappende Meerwasser erklingen lassen und sogar einen Ausflug Greats unter Wasser akustisch illustrieren.
Dennoch fragt sich der erwachsene Zuschauer in manchen Momenten, ob die Szenerien nicht etwas zu beklemmend und deprimierend für ein junges Publikum ab zehn Jahren ausgefallen sind. Doch gibt man mit dieser Sicht der Bühnendinge vielleicht auch zu erkennen, das Stück damit aus dem Blickwinkel des kleinmütigen Vaters zu betrachten. Die Heldin jedenfalls zeigt trotz der dystopischen Untertöne keine Anzeichen von Furcht und Schrecken. Im Gegenteil: Ihrem Optimismus, ihrer Empathie kann sich am Ende auch der zunächst so blindwütige Waljäger nicht entziehen. Und so schippern sie am Ende gemeinsam entspannt zurückgelehnt in ihrem Schlauchboot einer hoffentlich lichteren Zukunft entgegen.
Björn Gauges, 18.01.2020, Gießener Anzeiger