Bettina Wilpert hat mit ihrem Roman "Nichts, was uns passiert" einen hochgelobten Beitrag zur #metoo-Debatte verfasst. Das Stadttheater bringt ihn in einer eigenen Fassung als Uraufführung auf die Bühne. Ein Theaterabend mit großer Intensität und gewaltigem Nachhall - und in Anwesenheit der Autorin.
Vergewaltigung ist "Nichts, was uns passiert". Das glauben wohl die meisten. Doch Vergewaltiger sind in den seltensten Fällen der Unbekannte, der Frauen ins Gebüsch zieht und sich an ihnen vergeht, sondern überwiegend der gute Bekannte, scheinbar harmlose Verwandte oder ach so nette Nachbar. Und die Dunkelziffer der Taten sexualisierter Gewalt, die tatsächlich angezeigt werden und vor Gericht landen, ist verschwindend gering. Bettina Wilpert zeigt in ihrem von der Kritik hochgelobten und grandios protokollarisch-nüchtern geschriebenen Roman "Nichts, was uns passiert", welche psychologischen, juristischen und gesellschaftlichen Folgen eine Vergewaltigung hat. Regisseurin Sandra Strunz und Dramaturgin Carola Schiefke haben daraus eine Fassung für die Bühne gemacht, die am Donnerstagabend auf der taT-Studiobühne beeindruckende Uraufführung hatte.
Johanna Malecki und Stephan Hirschpointer spielen die Hauptfiguren Anna und Jonas, aber geben auch den anderen Personen aus deren Umfeld eine Stimme, die plötzlich vor der Herausforderung stehen, Stellung beziehen zu müssen: War es eine Vergewaltigung oder eine Falschbeschuldigung? Wer ist "Opfer", wer "Täter"? Und wem soll man glauben? Wie soll man urteilen, wenn Aussage gegen Aussage steht und nur die beiden Beteiligten die Wahrheit kennen, aber sich da auch selbst nicht ganz sicher sind, denn schließlich war jede Menge Alkohol im Spiel und die Tat erst nach längerer Zeit angezeigt worden?
Wem kann man glauben?
Der Roman gibt darauf keine plakative Antwort, und auch das Stück nicht. Und gerade darin liegt beider Stärke, denn die Dinge sind eben nie einfach nur Schwarzweiß, sondern voller Grautöne. Stück und Roman spielen mit dem zermürbenden Unwissen und den ambivalenten Gefühlen. Wichtig ist aber, dass der Text Männer wie Frauen dazu zwingt, sich mit dem Thema sexualisierter Gewalt zumindest auseinandersetzen - und das nicht erst seit der #metoo-Debatte.
Das Premierenpublikum, darunter auch die Autorin Bettina Wilpert, taumelt regelrecht durch die aus einer überwiegend anonymen Erzählerposition heraus geschilderte Geschichte. Im mit zwei Tischen, Stühlen und Mikrofonen sowie einer Wand voller Skriptzettel von Thomas Döll minimalistisch gestalteten Bühnenbild sitzen die Zuschauer quasi auf Augenhöhe an den Seiten, willkürlich aufgeteilt in zwei Lager und Anna und Jonas zunächst mittendrin. Sie ist die frech stichelnde Studentin, er der "pseudointellektuelle Doktorand". Sie haben einen One-night-Stand, wollen eigentlich keine Beziehung. Doch beim zweiten zufälligen Zusammentreffen kommt es zum Unaussprechlichen, was Anna lange nur als "die Sache" bezeichnen kann. Als Anna Jonas anzeigt, beginnt für beide ein Spießrutenlauf, beider Leben gerät völlig aus den Fugen.
Naturgemäß braucht es für die Darstellung zwei Schauspieler, die bis an die Grenzen ihrer eigenen und des Publikums Belastbarkeit gehen. Johanna Malecki und Stephan Hirschpointer gelingt genau das. Zur aggressiv-treibenden Musik von Karsten Süßmilch streiten, küssen und beschuldigen sie sich. Sie zertrümmern Stühle und lassen Tische mit lautem Knall aufeinanderprallen, so wie auch ihr beider Schicksal in den von Anna qualvoll mitgezählten "1380 Sekunden" der Vergewaltigung aufeinander knallt. Choreografierte Bewegungsabläufe machen beider Trauma ein wenig anschaulich.
Schon das Zuschauen schmerzt
Stephan Hirschpointner schafft es, dass man sich den Vergewaltiger nicht nur als Monster vorstellt, sondern auch als verletzlichen Mensch, für den man durchaus Sympathien haben kann. So wie sich seine Freunde auch nur schwer vorstellen können, dass der "feministisch" erzogene junge Durchschnittstyp tatsächlich zu einer solchen Tat fähig sein könnte, so kann es auch das Publikum nur schwer glauben. Und doch scheint er es getan zu haben.
Johanna Malecki spielt die bis in die Tiefen ihrer Seele erschütterte Anna, die sich vehement dagegen wehrt, nur das Opfer zu sein und am Ende mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen und wegen fehlender "qualifizierter Nötigungsmittel" leben muss, mit unfassbarer Intensität. Wenn sie sich in ihrer Verzweiflung die Kleider vom Leib reißt und komplett schutzlos die Zuschauer anfleht, sie doch einmal tröstend in den Arm zu nehmen, dann schmerzt schon das bloße Zuschauen.
Regisseurin Sandra Strunz, die zum ersten Mal in Gießen inszeniert, ist es gelungen, in ihrer mit Dramaturgin Carola Schiefke geschriebenen Bühnenfassung den nüchtern-protokollarischen Stil des Romans bei aller Emotionalität in der Darstellung beizubehalten. Nur einmal kippt die Stimmung ins Lächerliche. Als Anna auf der Polizeistation Anzeige erstattet und an einen mit künstlichem Gebiss schmatzenden Polizisten ohne jegliches Feingefühl gerät, dann zeigt das zwar die demütigende Situation, driftet aber auch leicht ins Lächerliche. Schade.
Karola Schepp, 02.09.2019, Gießener Allgemeine Zeitung