„Gundermann“: Eine musikalisch-poetische Annäherung an den ostdeutschen Liedermacher im taT
Ein Phänomen: Auch 30 Jahre nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs war jeder fünfte Westdeutsche noch nie in einem der fünf hinzugekommenen Bundesländer. Allein angesichts der sich in dieser Zahl ausdrückenden Ignoranz scheint es noch immer dringend geboten, „den Westen an den Osten zu erinnern“. Diesen im Untertitel formulierten Versuch unternimmt nun der Gießener Theatermacher Christian Lugerth in seinem Stück „Gundermann“. Bei der Uraufführung am Donnerstagabend auf der taT-Studiobühne war eine atmosphärisch dichte, musikalisch-poetische Annäherung an den „Bob Dylan des Ostens“ zu erleben, in der sich zugleich gleich zwei untergegangene Welten vor dem Publikum auftaten.
Gundermann, das war ein bis heute im Osten der Republik innig verehrter, im Westen weitgehend unbekannt gebliebener Liedermacher, der eine ganz besondere, aber leider auch allzu kurze Karriere machte. Der „singende Baggerfahrer“, ein Kind der Lausitz, setzte sich in seinen ungemein bildstarken Liedern immer wieder mit seiner Heimat und der Arbeit im Tagebau auseinander. Und er verkörperte auf besondere Weise die Widersprüche, die das Leben in der DDR ausmachten – zwischen Renitenz, Anpassung und innerer Emigration. Seine Geschichte schilderte vor einem Jahr Regisseur Andreas Dresen in einem brillanten Spielfilm, der den 1998 gerade 43-jährigen, an einem Hirnschlag gestorbenen Gundermann auch hierzulande erstmals einem breiteren Publikum bekannt machte. Und auch für Christian Lugerth war dieses Werk eine Inspiration, sich mit der charismatischen Figur des Musikers auseinanderzusetzen. Doch er nähert sich ihm nun auf eine ganz andere, assoziative Weise. Biografische Details werden auf der Theaterbühne nur angedeutet, stattdessen weist das Stück über die einzelne Biografie hinaus.
Zusammen mit seinen gleichermaßen überzeugenden Darstellern David Moorbach, Esra Schreier und Sascha Bendiks setzt der Regisseur vor allem auf die Musik, die den Theaterabend strukturiert. An den Instrumenten wechseln sie sich mühelos ab, gespielt werden Gitarre, Bass, Klavier, Mundharmonika. Los geht es mit dem wunderbar melancholischen Stück „Weisstunoch“, in dem es heißt: „Wir wissen das alles was kommt / auch wieder geht / warum tut es dann immer wieder / und immer mehr weh“. Damit ist der Ton des Abends gesetzt. So erzählt das Quartett fortan in unterschiedlichen Rollen von dem rauen Leben der Arbeiter im Tagebau, von den Härten und Gefahren, von den Auseinandersetzungen mit arroganten Parteikadern, aber auch von dem Stolz, den diese Lebensform mit sich brachte. Das wird in kurzen Spielszenen angerissen, wenn ein Kumpel ein Orden verliehen bekommt, wenn in der Mittagspause Schnaps getrunken wird oder wenn ein Arbeiter seiner Freundin stolz die lärmende Fräsmaschine vorführt.
Natürlich bricht dabei immer wieder die große Politik in diese Leben hinein. Davon handeln auch die Texte, die Regisseur Lugerth für sein Stück ausgewählt hat. Zeilen von Heiner Müller, Brigitte Reimann oder Franz Fühmann geben dem Stück einen zusätzlichen Rhythmus. Aber der Regisseur setzt dabei seinen ganz eigenen Takt. Den Mauerfall handelt er in einem kurz von allen vier Schauspielern gebrüllten „Wahnsinn!“ ab, dann folgt schon ein Gedicht von Volker Braun, der sich darin tiefgründig mit den Gewaltexzessen eines Neonazi-Mobs in Hoyerswerda Anfang der 90er auseinandersetzt. Es geht um den Niedergang der Wirtschaft, um die Verwerfungen der Wendejahre. Und schließlich um die Enttarnung Gundermanns als Stasi-Spitzel. Zur Erklärung gab er Mitte der 90er an, er habe geglaubt, „es gäbe eine Ebene, auf der mir nur das Dienen zustünde“. „Auch das war Gundi“, sagt David Moorbach lakonisch.
So setzt sich ein umfassendes Bild zusammen, aus DDR und Wendezeit, aus Industriearbeit und den Härten des Alltags. 20 Jahre nach Gundermanns Tod wirkt all das eine weit entfernte Vergangenheit, die dennoch weit in unsere Gegenwart hineinreicht. Dieser Osten ist anders. Die Erinnerung an seine Geschichte – und natürlich an einen großartigen Liedermacher - ist dem Regisseur und seinem Ensemble unbedingt gelungen.
Björn Gauges, 16.11.2019, Gießener Anzeiger