Romantik, Üppigkeit, Intensität: Venezolanischer Sopranist Samuel Mariño überzeugte im Stadttheater.
"Sweeter than roses", das eröffnende Lied von Henry Purcell, gab die Grundstimmung des Abends an: "What magic has victorious love", heißt es darin - die Magie der irdischen Liebe entpuppte sich als die geheime Agenda der "himmlischen Klänge", wie der Titel des ungewöhnlichen Gesangsrezitals im Gießener Stadttheater lautete. Gestaltet wurde das Konzert von dem venezolanischen Sopranisten Samuel Mariño gemeinsam mit dem Solorepetitor des Hauses, Evgeni Ganev, am großen Konzertflügel.
Dieser musikalische Himmel war erkennbar weder einer des Puritanismus noch des Purismus. Denn die Klangwelt, die dieses so angenehm unkonventionell ungleiche Paar aus den Liedern und Arien der Zeit vom 17. bis zum 20. Jahrhundert entwickelte, gestattete sich durchaus Romantik, Schwelgerei, Üppigkeit und Süffigkeit - und noch in den, ebenfalls zugelassenen, zarten und schüchternen Augenblicken gab es auch nicht das geringste Nachlassen der Intensität.
Mariño, der junge Sänger mit der außergewöhnlichen Stimme, hat sich ja längst einen Ruf als hervorragender Interpret von Musik insbesondere des Barock erarbeitet; in der Region feierte er Erfolge in Händels Oratorium "La Resurrezione", und außerdem gastierte er mit großem Zuspruch bei mehreren Konzerten. Umso interessanter war es zu sehen, wie er klassische und romantische Musik interpretieren würde - die Programmfolge reichte ja von John Dowland über Wolfgang Amadeus Mozart und Georges Bizet bis zu Richard Strauss und Carl Orff. Hier spätestens passt auch die Begleitung auf dem Flügel. Denn natürlich war es zuerst doch etwas ungewohnt, Händels "Come unto Him" (aus dem "Messiah") mit Klavier zu hören; hat man sich aber erst wieder - ein bisschen fühlt es sich an wie ein Ausflug in die 60er Jahre - an den voluminösen und gänzlich nicht "authentischen" Klang gewöhnt, bekommt die Sache Charme.
Zumal ja auch Mariño kein Purist historisierender Aufführungspraxis ist (was nicht heißt, dass er nicht mit allen Wassern der Verzierungskunst gewaschen ist). Von Anfang an standen die Zeichen auf emotionale Intensität. Und die kostete Mariño genüsslich aus - mit allen stimmlichen Mitteln, aber auch darstellerisch: Dieser Mann kann kaum anders, als seine Musik körperlich und gestisch zu agieren. Deutlicher war die Erotik in Dowlands "Come again" wohl kaum je zu hören, ja, zu spüren - statt auf kultivierte Stilisierung setzt Mariño auf die Unmittelbarkeit der nachgerade physischen Seufzer und Entzückens-Laute. Und Purcell geriet ihm zu einem kleinen Meisterwerk in der Abschattierung zwischen beinahe hysterischer Erregtheit, hochgespannter Affektivität und zärtlichster Verführung.
Mariños schillernd-theatralische Selbstinszenierung (silberne Schuhe, bunt gemusterte Hosen) in Verbindung mit seinem unbändigen Temperament taten ihr Übriges, ihm das Publikum gänzlich zu gewinnen. Ganev in seiner zurückhaltenden, unprätentiösen Haltung, fast grau wirkend in seinem einfachen Straßenanzug, ergänzte das erstaunlich gut. Das gilt insbesondere für seine sensible Form der Begleitung in der zweiten Programmhälfte. Zu einem stillen Höhepunkt geriet den beiden die leiseste Nummer des Abends, das Lied "Morgen" von Richard Strauss. "Des Glückes stummes Schweigen" - hier manifestierte es sich in einer Stimme von filigraner, durchscheinender Brüchigkeit, im gemeinsam ausgekosteten Verstummen. Überhaupt konnte Mariño gerade in den lyrischen Nummern unter Beweis stellen, wie weit er seine Stimmkontrolle perfektioniert hat - die virtuosesten Koloraturen und das hochdramatische Fach beherrscht er ohnehin.
Was gab es sonst noch? Jede Menge Musik mit teils anzüglich lasziver, teils versonnen nostalgischer Liebe. Da durfte "Voi che sapete" von Mozart nicht fehlen, aber auch nicht ein "Chant d'amour" von Bizet oder "In trutina" aus den "Carmina burana" von Orff (darin geht es um das Schwanken zwischen lüsterner Liebe und Zurückhaltung).
Kurze Erholungspausen
Aus Pauline Viardots "Sieben Liedern" von 1880 gab es eine süß seufzende "Havanaise", von Vincenzo Bellini die verzweifelte Arie des Romeo aus "Capuleti e i Montecchi" und noch eine gefühlige Mond-Anschmachtung des Titels "Vaga luna, che inargenti", eine Ariette aus einer Liedersammlung von 1838. Zweimal verschaffte Ganev dem Sänger kurze Erholungspausen durch solistische Stücke: ein kurzweilig virtuoses Charakterstück "Le Coucou" von Louis-Claude Daquin aus dem 18. Jahrhundert sowie die samtig dunkle "Elegie" op. 3/1 von Sergeij Rachmaninow. Nicht ohne Witz nach dem erfreulich irdischen Programm war die Zugabe: "Stille Nacht, heilige Nacht".
Karsten Mackensen, 24.12.2019, Gießener Anzeiger