Zweigesichtige Musiktheater-Produktion nach Poulencs „Die menschliche Stimme“ im Stadttheater Gießen.
Die Frau hat, wie man hört, viel Bekümmernis. Dass der Mann, der sie anruft, sie gerade verlassen hat, bringt sie an den Rand ihrer Existenz. Sie ist allein mit sich, ihrer Stimme, dem Telefon. Wie der Mensch ja mit dem Elend des Lebens immer und überhaupt ziemlich allein ist.
Die Musik in Francis Poulencs Mono-Oper „Die menschliche Stimme“ transportiert eine Atmosphäre tiefer Zerrissenheit, Hysterie, Todesnähe. Weil das Stück allein zeitlich nicht abendfüllend ist, haben im Stadttheater Gießen Florian Ludwig (musikalische Leitung) und Wolfgang Hofmann (Inszenierung) es mit einem dramatischen Exkurs in die Musikgeschichte zu der Produktion „Glaube. Liebe. Abschied“ erweitert.
Das ergibt einen Abend, der in mehrfacher Hinsicht zweigeteilt ist. Eine Klammer stiftet das Bühnenbild (Lars Peter, Video: Roland Pietryga): Im Flughafengebäude am Gate wartet die Frau auf einen Flug, der annulliert ist, und hat nur ihr Handy als Medium für den Kontakt zu ihrem eigenen Leben und zu dem fernen Ex-Geliebten. Sie leidet, sie lügt, sie schnurrt, sie schimpft, sie droht, sie überquert mit großen, hastigen Schritten die Bühne, wenn sie plötzlich im Funkloch steht. Auf der Anzeigentafel passiert lange nichts, außer, dass die Zeit viel zu schnell vergeht.
Im zweiten Teil des Abends kommen dann weitere Sängerinnen und Sänger samt Chor dazu. Sie warten auf den Flug nach Poulenc, angekündigt für 9 Uhr.
Szenisch ist die Produktion durchaus gewagt. Für Poulencs Einakter funktioniert die Umgebung des Flughafens ausgezeichnet. ein Ausnahme-Ort, an dem die allgegenwärtige und sorgsam kaschierte Flugangst allerlei von dem bündelt, was menschliche Bekümmernis zu bieten hat. Die Sopranistin Tanja Kuhn ist zudem eine überaus präsente Darstellerin und Sängerin. Sie kann mit den Freiheiten und den Genauigkeiten, die der Komponist ihr gegeben und auferlegt hat, viel anfangen. Sie ist ständig in Bewegung an den Rändern der eigenen Abgründe, strahlt Energie und Eleganz aus, andererseits Überforderung und Verletztheit. Und sie kann beides stimmlich wie spielerisch überzeugend darstellen. Eine eindrucksvolle Arbeit, getragen von einem prägnant und mit angemessener Schärfe agierenden Philharmonischen Orchester.
Der zweite Teil stellt dann Werke von Haydn, Bach, Telemann und Bruckner in den Flughafen-Kontext. Die daraus entstehenden szenischen Konfrontationen wirken teilweise durchaus horizonterweiternd, manchmal kommt aber auch nur sanfter Klamauk heraus. Wenn zum Beispiel Bachs Kaffee-Kantate („Ei! Wie schmeckt der Coffee süße“) neben einem Kaffee-Automaten, der (wie wir alle das kennen) nicht richtig funktioniert, gesungen wird; wenn zu dem Duett „O Menschenkind, hör auf geschwind“ aus der Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ auf dem Rollfeld draußen ein Flugzeug startet; oder wenn im Finale zu Haydns Sopran-Arie „Nun beut die Flur das frische Grün“ (aus der „Schöpfung“) ein dekorierter Weihnachtsbaum auf die Bühne geschoben wird. Um hier szenischen Kontrastwirkungen zu erzeugen, fehlt es der Produktion häufig an der nötigen Fallhöhe.
Es sind vor allem die ausgezeichnet choreografierten und gesungenen Passagen des Chors, die den zweiten Teil der Aufführung tragen; in den Soli kommt zuweilen eher eine nette Lustigkeit auf, die unter den Intentionen der Produktion hinweg taucht. Immerhin wird erkennbar, wie belastbar ältere Musik sein muss, um nicht an den Anforderungen eines Flughafens zu scheitern.
Hans-Jürgen Linke, 26.12.2019, Frankfurter Rundschau