Viertes Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters bot Unbekanntes und einen echten musikalischen Höhepunkt
Beim vierten Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters Gießen am Dienstagabend gab es anderthalb interessante musikalische Entdeckungen und einen echten Höhepunkt. Letzteren stellte „La Valse“ von Maurice Ravel dar, die Raritäten waren ein kurzes „Notturno für Streichorchester und Harfe“ von Arnold Schönberg, erst kürzlich als das erste überhaupt öffentlich aufgeführte Werk des Komponisten identifiziert, sowie das außerhalb Bulgariens weitgehend unbekannte erste Violinkonzert von Pantscho Wladigerow. Außerdem wurde noch Igor Strawinskijs „Feuervogel“-Suite gespielt.
Es ist eine gute Tradition in vielen Sinfonieorchestern in Deutschland, dass Künstler und Künstlerinnen aus den eigenen Reihen als Solisten auftreten. Man kennt das von den großen philharmonischen Orchestern, etwa den Berlinern, aber auch an kleineren Häusern ist es eine nicht unübliche Praxis. Die Sache ist von hohem Reiz, birgt aber auch gewisse Risiken. Der Reiz liegt in der Vertrautheit des Publikums mit den Künstlern, mit denen man sich vielleicht schon viele Jahre gleichsam verbunden weiß, er liegt auch im stolzen Vorweis des Orchesters der solistischen Qualitäten der einzelnen Ensemblemitglieder, deren Zusammenwirken wir sonst da erleben, wo im Idealfall das sinfonische Klangergebnis mehr darstellt als die Summe der musikalischen Einzelleistungen. Das Risiko besteht in den gänzlich abweichenden Routinen des Orchesterspiels und des solistischen Auftritts.
Den Solopart in Pantscho Wladigerows erstem Violinkonzert (uraufgeführt 1921 in Berlin) übernahm Ivan Krastev, seit mittlerweile 18 Jahren zweiter Konzertmeister des Gießener Orchesters. Um es kurz zu sagen: Er hat seine Sache mit größtem Anstand bewältigt und so geholfen, eine weitgehend unbekannte, aber in vieler Hinsicht lohnende Komposition einmal in ihrer ganzen Lebendigkeit vorzuführen. Fast immer gelang ihm der große Ton, den das Stück verlangt, nur die Kantilenen des langsamen Satzes hätte man vielleicht noch inniger und die virtuosen Folklorismen des letzten Satzes weniger buchstabiert erhofft.
Das Stück ist in vieler Hinsicht vorhersehbar – es wartet mit allen technischen Finessen auf, die ein anständiges Violinkonzert jener Zeit haben musste, es gibt umfangreiche Doppelgriffpassagen, weite, in der Farbe impressionistisch anmutende Linien, es gibt folkloristische und tänzerische Elemente. Viel hat der Bulgare Wladigerow von Richard Strauss gelernt, aber auch Assoziationen zu Sibelius oder Kabalewskij mögen sich einstellen. Das Werk ist aber nicht nur epigonal – gerade in den Orchesterfarben und deren Verschmelzung mit der Solostimme entwickelt es einen eigenen Ton.
Ein eigener Ton
Spätromantisch dann, mit kleinem Orchester und nur vier Minuten dauernd, erklang das Schönberg-Notturno, dessen Besonderheit die Besetzung mit Soloharfe (Hye-Jin Kang) und -geige (ebenfalls Krastev) darstellt. Offensichtlich für das „Polyhymnia“-Ensemble bestimmt, in dem Schönberg selbst 1896 bei der Uraufführung als Cellist mitwirkte, ist das Ganze aber eher musikhistorisch interessant als musikalisch ergiebig.
Zum Höhepunkt des Abends geriet dem ausgezeichnet disponierten Orchester unter Leitung von Eraldo Salmieri dann Ravels „La Valse“ (uraufgeführt 1920). In selten bei diesem Orchester so gehörter durchsichtiger, prägnanter und tragender Klanglichkeit gestaltete sich die Musik zu einem düster-bleichen Fanal des Walzers als Emblem eines im Stahlgewitter untergegangenen alten Europas. Beinahe schien sich das Dirigat Salmieris dagegen zu wehren, unbedingt wollte er der lebenszugewandten Eleganz des Wiener Walzers beschwingt Raum geben – aber die Musik verweigerte das in geradezu unheimlicher Konsequenz. Aus dieser absichtsvoll und gespenstisch gestalteten Dialektik ergab sich die erschütternde Wirkung dieser nur vermeintlich den Walzer feiernden sinfonischen Dichtung.
Den Beschluss bildete Strawinskijs Musik zum Ballett „Der Feuervogel“, in ihrer schillernden Vielfalt und ihren mitreißenden Effekten noch deutlich unbeschwerter wirkend, und von Salmieri mit sicherer Hand auf den Punkt gestaltet.
Karsten Mackensen, 07.11.2019, Gießener Anzeiger