Chor des Stadttheaters mit „Nachtgesängen“ unter der Leitung von Martin Spahr in der Pankratiuskapelle
Dunkel und getragen, nachdenklich und tröstlich durchdrangen am Donnerstagabend „Nachtgesänge“ den Kirchenraum der wohlig gefüllten Pankratiuskapelle. Der Chor des Stadttheaters hatte zu einem besonderen, atmosphärisch dichten Konzert geladen, dessen Beiträge um die Themenfelder Nacht, Schlaf und Trost kreisten.
Unter der Leitung von Kapellmeister Martin Spahr, der ja derzeit stellvertretend auch die Leitung des Chores übernommen hat, stellte sich das Ensemble der anspruchsvollen Herausforderung reinen A-cappella-Gesangs, ganz unter Verzicht auf eine Begleitung durchs Klavier oder andere Instrumente. Weniger an großen, monumentalen Klangwirkungen, wie man sie etwa von Oratorien kennt, lag es diesem Konzert, sondern an den sensiblen Feinheiten der Textausdeutung, am subtilen Satz der Stimmen. Dafür war die im Prinzip der Größe eines Kammerchores entsprechende Besetzung gut geeignet.
Einige der Werke dürften vielen Besuchern – vielleicht sogar aus eigener Chor-Erfahrung – bekannt gewesen sein, andere stellten Ungewöhnliches und selten Gehörtes dar. Eine Klammer bildete Musik von Johannes Brahms, dessen „Drei Gesänge“ op. 42 den Auftakt bildeten – zugleich schlicht und doch enorm differenziert in ihrer sechsstimmigen Anlage, musste sich der Chor dafür erst ein bisschen sammeln, um den so stark wechselnden Bildern (in den Dichtungen von Brentano, Müller und Ossian) folgen zu können.
Die Textverständlichkeit – und das galt durchweg – hätte besser sein können, zumal das Programmheft weder Textdichter noch die eigentlich so wichtigen Texte selbst anbot. Brahms’ berühmte „Waldesnacht“ beendete die Programmfolge. Manchem war sicher auch Eric Whitacres „Sleep“ vertraut, und zwar gerade unter den Jüngeren im Publikum (die erfreulich breit vertreten waren), denn der Komponist hat das Stück für eine Internet-Aufführung angelegt, bei der Sänger aus der ganzen Welt virtuell gemeinsam in einem Video zusammengeschnitten wurden.
Musikalisch herausragend und in jeder Hinsicht enorm anspruchsvoll stellten sich zwei Kompositionen dar, die dramaturgisch bestimmt nicht zufällig die Mitte des Abends bildeten. Francis Poulencs „Un soir de neige“ aus dem Jahr 1944 ist als kleine Kammerkantate auf einen Text von Paul Eluard angelegt. Als Ausdruck unerbittlicher Kälte und Erstarrung, schließlich des nächtlichen, einsamen Todes, wirkt die Musik weniger tröstlich als viele andere Stücke des gläubigen Katholiken Poulenc.
Ausdruck der Kälte
Die schleppende, verlorene Traurigkeit der teils stark chromatischen, stellenweise mit altertümlich kirchlichen Wendungen operierenden Musik gewann im Konzert auch ohne jede Kenntnis des Gedichts anschauliche Gestalt. Darauf folgte „The Evening Watch“ von Gustav Holst, eine achtstimmige Motette auf ein Gedicht von Henry Vaughan, komponiert 1925. Das Zwiegespräch zwischen Körper und Seele hat mit seiner uneindeutigen, zwischen Moderne und mittelalterlicher Modalität vermittelnden, stark homophonen Tonalität, eine weniger ruhige als eher düstere klangliche Anmutung, die der Chor fast wollüstig auskostete. Von Camille Saint-Saëns erklang außerdem die nostalgisch-verspielte „Romance du soir“ aus dem Jahr 1902. Hugo Distlers Mörike-Lied „Um Mitternacht“ (1939) gab der Chor ähnlich tröstend und hoffnungsvoll, musikalisch wie entrückt, zart und feinsinnig.
Mit zwei Werken wandten sich Komponisten zudem einer Vertonung des berühmten Hymnus „Ave maris stella“ zu, der liturgisch zum Stundengebet der Vesper, also des Abendgottesdienstes, an Marienfesten gehört. Edvard Grieg vertonte den Hymnus 1898, voller Innigkeit und fließender Ruhe auch vom Chor umgesetzt. Gänzlich anders klingt der Satz des ebenfalls norwegischen Kirchenmusikers Trond Kverno aus dem Jahr 1976. Antiphonal angelegt, also als Wechselgesang zwischen zwei Chören, hat das Stück eine absichtliche mittelalterliche Anmutung, greift aber auch in einem rascheren Einschub entfernt an Carl Orff erinnernde Elemente rhythmisch-sprachhaften, fast perkussiven Gesangs auf. „Guten Abend, gute Nacht“ als Zugabe entließ das Publikum getröstet in die Nacht.
Karsten Mackensen, 09.03.2020, Gießener Anzeiger