Elke Heidenreich liest vor vollen Rängen im Stadttheater aus ihrem Buch „Alles fließt – der Rhein. Eine Reise“
„Warum ist es am Rhein so schön?“ fragte durchaus ernsthaft Autorin Elke Heidenreich, als sie am Samstag vor vollen Rängen des Stadttheaters aus ihrem Buch „Alles fließt – der Rhein. Eine Reise“ las und ihre Zuhörer von der ersten Seite an fesselte. Marc-Aurel Floros begleitete sie sensibel und originell am Flügel. Trotz ernsthafter, vielschichtiger Sichtweise war es ein sehr heiterer Abend.
„Das ist ja mal ein schönes volles Haus“, freute sie sich zu Beginn. Pianist Marc-Aurel Floros schickte ein donnernd rollendes Intro zum Thema in den Saal und untermalte gleich die erste Frage. „Man weiß gar nicht so genau, warum“, fuhr Heidenreich fort. „Weil ich das wissen wollte, hab ich das Buch geschrieben.“ Sie fuhr mit dem befreundeten Fotografen Tom Krausz von Basel bis Amsterdam, um den Fluss ganz kennenzulernen, der ein paar hundert Schritte vor ihrem Haus fließt und den sie täglich beim „Gang mit dem Hund“ sieht. Sie wohnt seit 30 Jahren am Fluss. „Er ist ja einer der ältesten Väter der Welt, vergleichbar vielleicht noch mit Mütterchen Russland.“
Elke Heidenreich ordnet das Thema fast wissenschaftlich genau ein (1200 Kilometer lang, sechs durchquerte Länder und zahlreiche wissenswerte Fakten), findet aber gänzlich ungewohnte und vor allem persönliche Aspekte des Begreifens: „Ich wollte ihn riechen, fühlen, erfahren, nachdenken.“ Also buchte sie eine Pauschalreise auf der „MS Rheinmelodie“, wo ihr und dem Fotografen so allerlei Gedanken durch den Kopf gingen. Zwischendurch fügte Floros etwas lyrisch-klassizistische Anmutungen ein und erfüllte einerseits die Funktion des musikalischen thematischen Erläuterns und zugleich die der erfrischenden Abwandlung. Die zwei Quellflüsschen in Graubünden nennt die Autorin „Babys, die mal ein Strom werden wollen. Und hier kann man noch mit einem Schritt den Rhein überqueren.“
Witzig beschreibt Heidenreich die Pauschalreise auf dem Dampfer, begegnet Menschen und macht originelle Beobachtungen, etwa von Schiffen die Schlagseite bekommen, weil an der Loreley alle auf die eine Seite wechseln. Dabei ist die nur ein blanker Felsen mit einer Kreideaufschrift, aber „alle drehen durch.“ Floros intoniert „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“. Heidenreich: „Ach, Moll, das ist auch schön“ und singt ein bisschen mit. Sie ist ganz bei sich, ganz entspannt, macht und sagt ab und zu Sachen, die man nicht kommen sieht. Ernüchternd beschreibt sie den Anblick des Rheinfalls bei Schaffhausen, ein gnadenlos durchrationalisiertes Geschehen: vom Parkplatz zur Kasse, 5 Euro zahlen, die Treppen runter, den Rheinfall angucken, kurz, die andern drängen schon nach („Keine Möglichkeit, sich beeindrucken zu lassen“), dann Abreise im Stau. „So gesehen ist der Rheinfall ein Reinfall,“ sagt sie trocken. Alles lacht. Floros fügt eine opulente, aber nicht schwülstige Musik ein.
An Land warten trostlose touristenüberschwemmte Weindörfer („Japan ist schon komplett da“), und natürlich denkt Heidenreich bei der Durchfahrt durch die Schweiz auch an die schlimmen Ereignisse, etwa die Chemie-Brandkatastrophe in der Schweiz 1986, bei der im Löschwasser Tonnen von Chemikalien in den Fluss gelangten und tausende Vögel und Fische umbrachten.
Heidenreich präsentiert eine kreative Gesamtschau des Rheins, in der Fakten und Impressionen, Erinnerungen, Erlebtes (etwa die wunderbar absurden Dinge, die auf dem Schiff passierten) und Gefühle zusammenfließen – genau wie im richtigen Leben.
Der Rheingau ist die schönste Gegend, sagt sie. „Da ist der Mensch ganz nahe an seinem Fluss, Mannheim und Ludwigshafen können Sie glatt vergessen“.
Und das Ende des Flusses im großen Delta an der Nordsee sieht sie sehr persönlich. „Er ist am Meer, jetzt kann er nicht mehr, will er nicht mehr, er darf einfach verschwinden: er entgleitet uns. Aus dem Knäblein ist ein Greis geworden.“
Heiner Schultz, 06.01.2020, Gießener Anzeiger