Choreografin Olga Labovkina hat sich von Arthur Millers "Hexenjagd" inspirieren lassen, die auf der tatsächlichen Hexenverfolgung Ende des 17. Jahrhunderts in Salem, Massachusetts, basiert: Ein paar junge Mädchen werden bei einem "frivolen" Tanz erwischt, nehmen sich aus der Schusslinie, indem sie andere beschuldigen sie verhext zu haben. Hunderte Menschen werden verhaftet, 30 angeklagt, 20 werden hingerichtet oder sterben unter der Folter. Miller hat das dramatisiert - auch im Hinblick und mit Bezug auf die politische Hexenjagd der 1950-er Jahre, die Verfolgung der Kommunisten im Amerika der Ära McCarthy.
Und wie bringt man jetzt so etwas in ein Ballett?
Die Choreografin beschränkt sich auf einen entscheidenden Aspekt: Bei ihr stehen die jungen Mädchen im Fokus, die zu so großer Macht kommen, dass sie mehr oder weniger bestimmen können, wer aus der Gemeinde hingerichtet wird. Diese jungen Menschen – dargestellt von drei Tänzern und drei Tänzerinnen - haben etwas durchaus Kindliches, aber auch Grausames, Machthungriges, Konkurrentes, das wird auch durch die Kostüme unterstrichen: vorne Erwachsenenkleidung, von hinten sind die Oberteile am Rücken bis fast zum Hals in der Mitte wie ein Baby-Hemdchen aufgetrennt. Dieser Kampf ums Dazugehören ist ein Thema, das immer wieder in Variationen aufgegriffen wird, damit beginnt das ganze Stück auch schon ziemlich furios, athletisch, fast artistisch, sehr schnell, sehr kraftvoll, dabei mit einer Leichtigkeit, die fast an ein Kinderspiel erinnert.
Zu welcher Musik wird das dann getanzt?
Es sind elektronischen Klänge, die man martialisch nennen könnte und die sehr zum ästhetischen Erlebnis des ganzen Abends beitragen. Die Musik stammt von Dodóma, das ist ein vierköpfiges Musikerkollektiv aus Minsk, sie wurde eigens für dieses Stück komponiert, in enger Zusammenarbeit mit der Choreografin, die ebenfalls aus Weißrussland stammt.
Weißrussland ist keine Demokratie, geht es Olga Labovkina darum?
Nicht speziell, es geht ihr um die Mechanismen der Macht und um Menschen, die sich von ihr angezogen fühlen - und das geht weit über das historische Setting hinaus. Da gibt es etwa um das erotische Verhältnis zur Macht, in Gießen sehr gut umgesetzt mit zwei Tanzenden in riesigen grauen Mänteln, die sozusagen die Insignien der Macht sind: "Ich bin jetzt Gott und ihr betet mich an" oder "Jetzt spielen wir Krieg!" Ist das ein Vergleich mit aktuellen Politikern? Bei manchen Staatslenkern hat man ja den Eindruck, dass sie emotional in den Kinderschuhen stecken geblieben sind und ersten Impulsen nachgeben ohne großartig die Folgen zu bedenken. Das könnte Olga Labovkina ähnlich sehen...
Ein insgesamt überzeugender Tanzabend?
Ja! Hervorragende Tänzer stellen Prozesse und Entwicklungen von Gruppendynamik dar, man erlebt reine, kraftvolle und präzise Energie. Olga Labovkina findet eine sehr überzeugende Körpersprache. An einigen Stellen denkt man vielleicht, hoffentlich kippt das jetzt nicht, nämlich als einmal gesprochen wurde, das war nicht wirklich überzeugend, wirkte auch tatsächlich wie ein Stilbruch. Oder als Rauch aufstieg aus dem Bühnenverschlag, waren das die Scheiterhaufen der Hexenverfolgung? Das braucht man nicht. Ansonsten absolut sehenswert!!
Rosemarie Tuchelt, 04.12.2019, hr2.de