Erstes Sinfoniekonzert der Saison: Michael Hofstetter dirigiert Bernd Alois Zimmermann und Ludwig van Beethoven
Michael Hofstetter macht dem Gießener Publikum seinen bevorstehenden Abschied schwer. Gelöst, federnd und tänzerisch, dann wieder konzentriert und auf den Punkt führte der im Oktober scheidende Generalmusikdirektor das Philharmonische Orchester am Dienstagabend durch das erste Konzert der neuen Stadttheater-Saison. Der enthusiastische und schier nicht enden wollende Beifall galt sicherlich wesentlich den Leistungen des Dirigenten, und zwar nicht nur in diesem Konzert, sondern über die Jahre hinweg.
Das Programm des Abends stellte hohe Ansprüche: Bernd Alois Zimmermanns „Ich wandte mich und sah an alles Unrecht, das geschah unter der Sonne“ verband sich mit Ludwig van Beethovens dritter Sinfonie, der „Eroica“. Eine solche Kombination ist vielleicht nicht nur dem Umstand geschuldet, dass Beethoven einfach immer „zieht“. Das Verbindende dürfte allerdings nicht im Heroischen zu suchen sein – denn was wäre existenziell ent-larvender für einen theatralisch-optimistischen Heroismus als die radikale Selbstauslöschung, die sich sowohl in der Rezeption als auch in der Struktur von Zimmermanns Werk zeigen lässt. Diese düstere „ekklesiastische Aktion“ (so nannte er es selbst) war sein letztes Stück – nur fünf Tage nach seiner Vollendung setzte der Künstler am 10. August 1970 seinem Leben ein Ende.
Biblische Verse
Grundlage der zutiefst pessimistischen Komposition ist eine Konfrontation biblischer Verse aus dem vierten Kapitel des Buches Prediger mit der berühmten Legende vom Großinquisitor aus Fjodor Dostojewskis Roman „Die Brüder Karamasow“. Es ist kein bloßer Nihilismus, der sich in der Aufforderung des Inquisitors an den zurückgekehrten Jesus ausdrückt, wenn er ihn anfleht – in einem verzweifelten Ausbruch des vibrierend präsenten Sprechers Sebastian Songin – nie mehr wiederzukommen.
In der radikalen Begegnung der verschiedenen Textebenen und ihrer Umsetzung durch zwei Sprecher (ebenfalls von geradezu ansteckender Intensität Abdul-M. Kunze) und einen Sänger (mühelos zwischen meditativen Vokalisen und hoher Expressivität wechselnd der Bariton Martin Bruns) findet eine Klage über menschliches Leid und katholischen Machtmissbrauch musikalischen Niederschlag. Diese Klage betrifft das persönliche Verhältnis des Künstlers zum Glauben.
Und dies scheint das Verbindende zu Beethoven, wie es Hofstetters Dirigat herausarbeitete. Denn so wie er Zimmermanns Musik immer wieder Gelegenheit auch zur Entfaltung von Ironie gab – die äußert sich ja nicht zuletzt sogar performativ, wenn der Dirigent zur größten Textkakophonie resigniert in die Knie geht und die Musik ihrem Lauf überlässt –, gestaltete er Beethoven nicht in eindimensionalem Pathos. Bekannt ist ja die Episode, dass der Komponist die Widmung zu seiner 1804 uraufgeführten Sinfonie an Napoleon Bonaparte wütend zerriss, als er von dessen Krönung zum Kaiser erfuhr.
Beethovens ambivalente Einstellung indes reicht weiter zurück. Als Verrat an den Idealen der Französischen Revolution empfand er schon eine Vereinbarung Napoleons mit dem Vatikan über die Wiedereinführung des katholischen Gottesdienstes in Frankreich. An die Stelle institutionalisierten Kults sollte ein humaner Katholizismus treten.
Menschenzugewandt gestaltete sich dementsprechend Hofstetters Beethoven: Die erhabene Geste des unvermittelt versickernden Anfangsthemas trat zurück zugunsten einer beschwingten Aufforderung zum Tanz. Auch die quicklebendigen Einzelereignisse der Partitur brachen niemals die leichtfüßig federnde Linie des Dirigats auf; erst die Durchführung durfte schärfer und artikulierter auftreten. Ganz entgegen vielen Interpretationen erklang diese Musik lebensfroh, wie verliebt. Im Kern behielt Hofstetter diese Leichtigkeit bei, auch im Trauermarsch, der es aber vielleicht ein bisschen eilig hatte.
Auffallend bis zum Schlusssatz, der eine gewisse Robustheit ausstrahlte: Immer wieder legte Hofstetter den Taktstock nieder, suchte mit den Händen Fühlung mit dem Orchester. Das Ergebnis war eine optimistische Musik, nahbar und in ihrer persönlichen Attitüde nicht weniger bewegend als die Negierung der utopischen Kraft der Musik bei Zimmermann.
Karsten Mackensen, 29.08.2019, Gießener Anzeiger