Regisseur Wolfgang Hofmann hat es wieder getan. Nach seiner Oper "Mala Vita" wartet er am Stadttheater neuerlich mit einem Epochen-Mix auf. "Glaube. Liebe. Abschied" heißt der Musikabend, der zunächst mehr nach Abschied als nach Glaube aussieht.
Da steht sie, allein, verlassen, verzweifelt. Eine namenlose junge Frau. Enttäuscht blickt sie in der Wartehalle des Flughafens in die nicht vorhandene Ferne. Im scheidungsroten Hosenanzug sieht sie nach geschäftstüchtiger Tristesse aus und wirkt etwas zu mondän, um an einem Typen kleben zu bleiben, der sie zwei Tage zuvor abgestreift hat wie ein paar alte Handschuhe. Per Handy, das vielen einsamen Herzen in kühlen Nächten Wärme spenden soll, ist sie mit dem Kerl, den sie trotz allem "Cheri" nennt, noch immer verbunden. Zu hören sind nur ihre Worte, seine nicht.
40 Minuten lang zelebriert Sopranistin Tanja Kuhn im Stadttheater den Solo-Einakter "Die menschliche Stimme". Der Pariser Francis Poulenc hat seine letzte Oper nach einem 1930 erschienenen Theaterstück komponiert. Damals war das Telefon der letzte Schrei. Heute geht es um die letzten Dinge. Um Vertrauen und Misstrauen. Um Glaube, Liebe, Abschied. So nennt Regisseur Wolfgang Hofmann seinen neuen Musikabend: "Glaube. Liebe. Abschied", dem er als Auftakt "Die menschliche Stimme" voranstellt. Gemeinsam mit seinem musikalischen Leiter Florian Ludwig verbindet Hofmann den Poulenc mit Werken von Bach, Bruckner, Haydn und Telemann. Ein ähnlicher Epochen-Mix gelang dem Regisseur bereits im Vorjahr mit der Oper "Mala Vita".
Zunächst ist es am Flughafen drei Uhr nachts. Das Purgatorium, wie Hofmann seine neue Inszenierung nennt, hat gerade begonnen. Die junge Frau leidet, fleht und flucht. Die Verbindung zum Geliebten, der ihr fünf Jahre lang die Luft zum Atmen war, wird immer wieder unterbrochen, auch im übertragenen Sinn.
Musikalisch begibt sich Poulenc in seiner einaktigen Tragödie für Sopran und Orchester aus dem Jahr 1959 in die Weiten eines späten impressionistischen Dadaismus. Kuhn blüht darin auf. Zum ersten Mal in Gießen zu Gast, dreht sie gekonnt an den Volumenreglern ihrer Stimmbänder. Mal haut die zierliche Sängerin mit einem mächtigen hohen C auf den Putz, mal wirkt sie filigran und feingliedrig, dass man glaubt, sie kaum sehen zu können, so zart klingt sie. Kuhn beherrscht die Kunst des Decrescendos wie keine Zweite, wenn sie ihr Forte per Glissando herunterfährt zu einem fadendünnen Ton, der vor Spannung vibriert. Dazu spielt sie eindringlich. Ihre Textverständlichkeit hat Klasse.
Hofmann nutzt nach diesem famosen Solo den Ort, um Reisende und Airport-Personal auf die Bühne zu schicken, die sich mit den Themen Flugangst, Tod und den göttlichen Dingen beschäftigen. Erotik gehört auch dazu. Und Profanes wie Bachs "Kaffee-Kantate". Eingedampft auf sechs Minuten, wird sie zur pfeffrigen Espresso-Variante mit feiner Crema, Humor genannt. Oder Slapstick. Sobald Hofmann inszeniert, läuft es ja immer auf eine Komödie hinaus. Etwa beim Flughafen-Putzduo Naroa Intxausti und Grga Peroš, das sich zur Bach-Arie "Schlaf mein Liebster" kurz nach Dienstbeginn an die Wäsche geht. Paola Alcocer Crespo, Isabelle Rejall, Christopher Hochstuhl und Nile Senatore heißen die weiteren Solisten des Abends. Sie zeigen sich als Einsame in der Menge, als genervte Passagiere, Damen vom Bodenpersonal oder als Pilot stimmlich wie mimisch gut aufgelegt. Das Philharmonische Orchester Gießen musiziert dazu im Graben unter Ludwigs eloquentem Dirigat erfrischend. Neben dem Barocken wird Haydn angestimmt, am Ende erklingt sein "Vollendet ist das große Werk" aus der "Schöpfung". Der Chor des Hauses interpretiert das Stück spannungsreich, ebenso wie das "Locus iste" von Bruckner, das von einem passenden C-Dur-Dreiklang des Flughafen-Gongs eingeleitet wird.
Das superbe Abflughallen-Ambiente samt ratternder Info-Tafel und allmählichem Sonnenaufgang hinter den großen Scheiben geht auf das Konto von Bühnenbildner Lars Peter, die modernen Kostüme hat Claudia Krull ersonnen. Als am Schluss die Passagiere abgeflogen sind zu einem Zielort namens Poulenc, wird es wieder Nacht - und die junge Frau des Beginns bleibt am Flughafen allein zurück. Ausführlicher Applaus am Premierensamstag vom angetanen Publikum.
Die Ursprungsidee für dieses Opern-Unikum stammt vom scheidenden Generalmusikdirektor Michael Hofstetter, der das Theater vorzeitig zum Ende des Jahres verlässt. Ob dabei Groll im Spiel war? Zumindest wollte Hofstetter "Die menschliche Stimme" zwingend mit einer Bach-Kantate verbinden. Sie kommt auszugsweise zu Gehör und trägt den Titel: "Ich habe genug".
Manfred Merz, 21.12.2019, Gießener Allgemeine Zeitung