Performance von ATW-Studentin Lisa Schettel widmet sich auf der taT-studiobühne einem ganz besonderen Gefühl.
Schon erstaunlich, wie viele Gründe es gibt, Scham auszulösen. Einer davon, und für den gespannten Theaterbesucher der Naheliegendste: Werden die Bühnenakteure während ihres gleich beginnenden Stücks mit ihm in Kontakt treten wollen? Ihn ansprechen? Ihn auf die Bühne holen? Sich am Ende gar auf seinen Schoß setzen?
Zumindest was einen solchen für die meisten Besucher extrem schambehafteten Theatermoment angeht, geben die Darsteller in der ausverkauften taT-studiobühne gleich wieder Entwarnung. Denn zu Beginn von "Tausend Tode, die ich sterbe" verkünden sie dem Publikum, genau dies alles nicht zu tun. Schließlich gibt es, wenn auch nicht gleich Tausend, so doch immer noch genügend andere Möglichkeiten, dieses ganz spezielle Gefühl auszulösen, wie sich in den folgenden rund 90 Minuten Spielzeit zeigen wird.
Bei diesem Bühnenstück handelt es sich das Masterabschlussprojekt von Lisa Schettel, die am Gießener Institut für Angewandte Theaterwissenschaft (ATW) studiert. Zusammen mit ihren Mitstreitern Laura Eggert, Constantin von Thun und Nils Michael Weishaupt hat sie dafür in einer umfangreichen Recherche ganz unterschiedliche Themenfelder ausfindig gemacht, mit denen sich das Gefühl der Scham verbinden lässt. Und die werden nun auf der Bühne mit verschiedensten theatralen Mitteln umkreist und analysiert.
So widmen sich die Performer der Scham zunächst einmal als solcher. Die kann etwa dann eintreten, wenn man hilflos einer anonymen Menschenmasse gegenübersteht. Verkörpert wird sie hier von einem in engelartige Gewänder gehüllten Chor (Kostüme: Nora Schneider), der zunächst zaghaft den Beatles-Song "With A Little Help From My Friends" anstimmt, um dann plötzlich einem einzelnen Menschen (Nils Michael Weishaupt) aus dem vermeintlichen Freundeskreis herauszustoßen.
Allein gegen alle
Das Bild des sich fortan allein auf der Bühnenmitte wiederfindenden Figur ist per Video in detaillierten, überdeutlichen Ausschnitten im Bühnenhintergrund zu sehen. Der offene Mund, die Zunge, sogar sein herabtropfender Speichel werden herangezoomt, während der fiese Chor anonymer Figuren dazu hämisch keckert. Das auf der Bühne entstehende Bild trifft es auf den Kopf: Wer möchte schon mit einem solch armen Tropf tauschen, der in alle Einzelheiten zerlegt und gnadenlos bloßgestellt wird?
Eines der wichtigen Kapitel in Sachen Scham betrifft in Schettels Stück den Körper und die von ihm ausgesandten Signale. So lässt die Autorin verschiedene junge Leute per Tonkonserve einspielen, die in unterschiedlichen Varianten mit den Themen Annäherung, Sex und Liebe konfrontiert waren. "Wie eine rote Ampel" glühe das Gesicht, beschreibt einer treffend diese Selbstbeobachtung. Mal spielt der Körper verrückt, weil sich einer vom anderen angezogen fühlt. Mal, weil eine Ablehnung spürt. Mal, weil einer körperliche Annäherung erfährt, ohne sie zu wollen. Dann bricht der Schweiß aus, dann rast das Herz, dann naht die Ohnmacht - oder gar der titelgebende (soziale) Tod.
Schamkonstellationen gibt es, wie die Performer zeigen, also viele. Eine weitere wird mit einem Wort beschrieben, das tatsächlich noch gar nicht so lange zu unserem alltäglichen Sprachgebrauch gehört: die Fremdscham. Und Darsteller Constantin von Thun, der in einer Szene die "nackte Angst" verkörpert, hat keine Mühe, in einem ellenlangen Monolog darauf hinzuweisen, wie viele Anlässe dazu heutzutage geboten werden. Von US-Präsidenten angefangen bis zur Überlänge seines eigenen Vortrags. Dass der Darsteller dabei in einem kunstvoll peinlichen Kostüm steckt, aus dem sein Kopf quasi herausquillt, macht die Sache dabei noch anschaulicher und gleichzeitig gewitzter.
Doch auch eine Ehrenrettung der Scham hat diese erhellende, unterhaltsame und nur von wenigen Längen getrübte Theaterarbeit im Programm. Ohne das Gefühl, vermitteln die Sprecher, werde der Regellosigkeit Tür und Tor geöffnet. Oder glaubt etwa irgendjemand, dass man mit Typen wie Donald Trump besser dran sei, gerade weil die nicht den Hauch eines Schamempfindens besitzen?!
Björn Gauges, 07.12.2019, Gießener Anzeiger