Uraufführung in Gießen: Ausdruckstarke Theaterpremiere von „Nichts, was uns passiert“ nach dem Erfolgsroman von Bettina Wilpert im taT
Sprechen, performen, brüllen: Was für eine kraftvolle und ausdrucksstarke junge Frau. Johanna Malecki, Schauspielerin am Stadttheater Gießen, beeindruckte in der Uraufführung des Stücks „Nichts, was uns passiert“ das Publikum in der Studiobühne taT. Dagegen wirkte Schauspielerkollege Stephan Hirschpointner in dem Zweipersonenstück fast ein wenig blass.
Die Rollenverteilung hätte man möglicherweise auch umgekehrt erwarten können, denn es geht in der 90-minütigen Aufführung um eine mutmaßliche Vergewaltigung. Der Mann der Täter, die Frau das Opfer, wie sonst? Es steht Aussage gegen Aussage. Am Ende der Geschichte hebt die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen den Angeklagten auf.
Genug Zündstoff also für ein Theaterstück, und der wird in der Bühnenfassung für das Stadttheater Gießen von Regisseurin Sandra Strunz und Dramaturgin Carola Schiefke auch demonstrativ zum Ausdruck gebracht.
Zugrunde liegt der Debütroman von Bettina Wilpert. „Nichts was uns passiert“, der von der Kritik einhellig positiv aufgenommen und in Verbindung mit der aktuellen Debatte um sexuelle Gewalt diskutiert wurde. In der Zeit beispielsweise hieß es: „Brisantere Fragen kann die Literatur inmitten der aktuellen MeToo-Bewegung kaum stellen.“ Der Roman nähert sich dem Thema mit fast protokollarischen Aussagen der Beteiligten. Studentenleben in Leipzig zur Zeit der Fußball-WM, die beiden Kontrahenten Anna (27) und Jonas (28) begegnen sich auf der Treppe vor der Bibliothek. Diskussionen über Literatur, vor allem über Romane aus Russland und der Ukraine, bringen die beiden Studierenden näher zusammen. Und zu diesem speziellen Thema gehört auch eine kleine Flasche Wodka, schnell noch beim „Späti“ gekauft. Die beiden Protagonisten verbringen die Nacht zusammen, ein One-Night-Stand, angeblich will keiner der beiden eine feste Beziehung.
Kurz darauf treffen sich die beiden erneut. Wieder Fußball-Übertragung, wieder Wodka im Spiel. Doch diesmal ist alles anders: Jonas sagt, es war einvernehmlicher Sex, Anna sagt, es war eine Vergewaltigung. Sie grübelt über das Erlebte, sie grübelt über ihren Filmriss in der Nacht. Die Entscheidung kommt durch ihre Schwester, die sie drängt, Anzeige gegen Jonas zu erstatten. Doch die Vorsprache bei der Polizei, es ist bereits zu ahnen, entwickelt sich zu einem weiteren Trauma. Wenn letztlich das Verfahren auch eingestellt wird, so verliert Jonas doch seinen Job an der Uni. Die Freunde spalten sich in zwei Lager: Anna, Jonas, News, Fake-News, Interpretationssache. Eine große Unsicherheit und Wut bleibt zurück.
Soweit das Buch, jetzt zum Theaterstück nach Gießen: Während der Roman eher in nüchternem Stil geschrieben ist, erzählt Regisseurin Sandra Strunz mit hohem Tempo und Power von heftigen Emotionen und einem Trauma. Die gesprochenen Texte werden durch Körpersprache und choreografische Elemente ergänzt, sehr eindrucksvoll und ausdauernd umgesetzt von den beiden Schauspielern.
Zwei Tische, zwei Stühle, zwei Tafeln mit Texten, mehrere Mikrofone und Lampen, das ist alles, was Thomas Döll für sein ausdrucksstarkes und angemessenes Bühnenbild braucht. Diese Requisiten werden von Anna und Jonas wütend zum Einsatz gebracht. Stühle fliegen, Tische krachen gegeneinander, das Klangdesign dazu stammt von Karsten Süßmilch. Die Tische dienen auch als Bett, als Ort des Zusammenfindens, später auch als Ort der mutmaßlichen Vergewaltigung.
Die Vorstellung einer Vergewaltigung: Die Bühne kann hierfür eine eigene Sprache entwickeln, die nicht grob die Realität abbilden muss, dennoch nicht minder quälend sein kann. Johanna Malecki steht auf dem Tisch, reißt sich Shirt und BH herunter und provoziert das Publikum. Dann wird sie leise, zählt die Sekunden, wickelt sich selbst mit dem Kabel des Mikrofons ein. Gefangen in den eigenen Gedanken und der Ausweglosigkeit .
Johanna Malecki und Stephan Hirschpointner spielen nicht nur die beiden Hauptfiguren Anna und Jonas, sondern auch verschiedene Zeugen: Freunde, Schwester, Eltern und WG-Mitbewohner. Dem Handlungsverlauf ist leicht zu folgen, die Regisseurin verlässt sich auf die Klarheit des Textes.
Zurück zur Autorin: Bettina Wilpert wurde 1989 in Eggenfelden geboren, wuchs in Altötting auf und studierte Kulturwissenschaften und Anglistik in Berlin und Leipzig. 2018 veröffentlichte sie ihren Debütroman „Nichts, was uns passiert“, der mehrfach ausgezeichnet wurde. Sie erhielt unter anderem den Aspekte-Literaturpreis, den Lessingpreis und das Kranichsteiner Literatur-Stipendium. Mit der Gießener Uraufführung liegt nun erstmals eine Theaterfassung ihres Romans vor. Zur Premiere war die Autorin nach Gießen angereist und zeigte sich von der Inszenierung wie auch der Leistung der Schauspieler sehr angetan.
Ulla Hahn-Grimm, 31.08.2019, Gießener Anzeiger