Von intim bis kraftvoll: Drei Choreografen widmen sich im Stadttheater auf ganz unterschiedliche Weise den „Rebellen“
Die Persönlichkeiten von Donald Trump und Greta Thunberg unterscheidet vieles, vielleicht nahezu alles. Doch ein Etikett lässt sich beiden gleichermaßen anheften: die des Rebellen. Der US-Präsident zählt wie die schwedische Umweltaktivistin zu den schillernden Figuren, die bestehende Ordnungen, Regeln und Konventionen bewusst unterlaufen oder gleich ganz über den Haufen werfen. Ein Beispiel, das zeigt: Es ist nicht leicht, auf einen Nenner zu bringen, was einen Rebellen ausmacht. Und so durfte man gespannt sein, wie der Tanzabend im Stadttheater Gießen dieses Thema anpackte: Am Sonntagabend feierte „Rebellen“ Uraufführung im Großen Haus – der Applaus am Ende fiel lautstark, langanhaltend und überschwänglich aus.
Um den zentralen Begriff auf seinen Gehalt hin abzuklopfen, hat Tanzdirektor Tarek Assam zwei Gäste nach Gießen eingeladen: die Spanierin Asun Noales sowie den Österreicher Jörg Mannes. Ein lohnender Einfall, denn die drei Choreografen verfolgten ganz unterschiedliche Ansätze, wählten ebenso differente ästhetische Formen, um ihre Ideen in getanzte Bilder zu übersetzen. Dennoch sorgten sie für eine gemeinsame Form, die diese erste große Tanzproduktion der Saison zusammenhielt und ebenso wie die jeweils leicht veränderte Kulisse (Colin Walker) eine Art roten Faden durch den knapp zweistündigen Abend legte.
Den Beginn übernahm Jörg Mannes, der zuletzt viele Jahre als Ballettdirektor an der Staatsoper Hannover gearbeitet hat. Der gebürtige Wiener widmet sich in seiner Choreographie der Persönlichkeit des tragisch gescheiterten russischen Dichters Wladimir Majakowski (1893–1930). Der war zunächst glühender Anhänger der Sowjetrevolution, bis er sich mehr und mehr von dem System und der Sowjetgesellschaft abwandte und seinem Leben schließlich selbst ein Ende setzte.
Mannes wählte für seine Annäherung Orchestermusik von Majakowskis Zeitgenossen Dmitri Schostakowitsch, die dem Bühnengeschehen von Beginn an einen hochdramatischen Charakter verlieh. In einer konformistischen Gesellschaft gleichgesinnter Anzugträger (Kostüme: Angelika Lenz) versucht der rebellische Majakowski (Patrick Cabrera Touman) seinen Platz zu finden. Gleichzeitig thematisiert das Stück „Euer Traum“ die Dreiecksbeziehung Majakowskis zu Lilja Brik (Laura Àvila), die er liebt, mit deren Mann Ossip (Sven Krautwurst) ihn aber gleichzeitig ein freundschaftliches Verhältnis verbindet. So wechselt dieser erste Teil des Abends immer wieder schlüssig zwischen Ensembleszenen und inniglichen, bisweilen sehr intimen Momenten im Duo oder Trio.
Ganz anders dann die Herangehensweise von Tarek Assam, der seinen Beitrag außergewöhnlich formal angelegt hat. Dazu wählte er eine Komposition von Steve Reich, einem der Wegbereiter der Minimal Music. Dessen 1. Satz aus dem 2004 entstandenen Werk „You are“ schlug unmittelbar ein Höllentempo an – das es bis zum Ende beibehielt. Ihm ging es um das Prozesshafte, um die Struktur, hatte Gießens Ballettdirektor dazu vorab im Pressegespräch gesagt. Zudem sei die Rebellion „immer eng verknüpft mit einem Ist-Zustand, gegen den sie sich richtet“.
Hier ist es also nicht der Einzelne, der wie zuvor bei Jörg Mannes aufbegehrt, sondern gleich die ganze Gruppe. Und die entwickelt in den Bildern Assams eine ungemeine Kraft, die sie gegen die bestehende Ordnung richtet – personifiziert durch den in einer Uniform und schweren schwarzen Stiefeln steckenden General (Gleidson Vigne) und eine Blazer tragende Politikerin (Magdalena Stoyanova). Oder durch dehnbare Tücher, die den Tänzern um den Hals hängen, ihre Bewegungsfreiheit einschränken, von denen sie sich aber mehr und mehr lösen.
Den künstlerischen Höhepunkt des Abends bildete dann Asun Noales’ Auseinandersetzung mit Igor Strawinskys „Le Sacre du Printemps“. Dessen Komposition lieferte im Jahr 1913 einen Bühnenskandal, der in der Theatergeschichte bis heute einzigartig ist. Strawinskys Überwindung formaler Grenzen aller Art sorgte damals bei der Uraufführung des Balletts in Paris für Pfiffe, Ohnmachtsanfälle und fliegende Fäuste. Inhaltlich erzählt das Stück von einem rituellen slawischen Opfertanz, mit dem der Gott des Frühlings günstig gestimmt werden soll. Zu den opulenten, bisweilen scharf kontrastierenden Klängen Strawinskys zeigt die spanische Choreografin aber kein Opferfest, sondern eine Feier jugendlicher Kraft und Energie. Hier ist es das gesamte Ensemble, das zunächst sanft und behutsam sein Frühlingserwachen skizziert. Doch bald schon entwickelt diese Gruppe eine enorme Wucht, die sich in hochintensiven Tableaus ausdrückt. Bisweilen ergeben sich dabei Paarkonstellationen, dann schließt sich die Gruppe wieder zu einem einzigen großen Körper zusammen.
Jugendliche, so die Choreografin, „halten sich oftmals für die Allergrößten und sind in der Lage, ihre körperliche Ausdauer bis zur Erschöpfung auszuleben“. Das zeigt sie in ihrer spannungsgeladenen Arbeit „Subversive“, die eine solche Kraft entdecken lässt. Dass dabei bisweilen Bilder entstehen, die manch einem harmonie- und ruhebedürftigen Menschen bedrohlich erscheinen können, macht diese Choreographie umso reizvoller. Womit wir wieder am Anfang wären: bei Greta Thunberg.
Björn Gauges, 01.10.2019, Gießener Anzeiger