„30 Menschen, 30 Erinnerungen, eine Bühne“ überzeugt mit toller Atmosphäre / Herzerwärmende Geschichten rund um den 9. November
Zahlreiche Besucher erlebten im Stadttheater eine interessante und abwechslungsreiche Zeitreise rund um den 9. November, an dem die Veranstaltung „30 Menschen, 30 Erinnerungen, eine Bühne“ selbstredend stattfand. Das Prinzip ist schnell erklärt. 30 Personen berichteten innerhalb von drei Minuten von ihren ganz persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen, die sie mit diesem vor allem in Deutschland geschichtsträchtigen Datum (9. November 1989 war der Berliner Mauerfall) verbinden. Herausgekommen ist ein Abend, an dem gelacht, gehofft und zum Nachdenken angeregt wurde.
Viele folgten dem Ruf aus der Vergangenheit und das schön ausgeleuchtete „große Haus“ des Stadttheaters trug zur einladenden Stimmung bei. In kreisrunder Sitzanordnung rund um zwei Podien mit Mikrofon aufgestellt, hatten alle Zuhörer gute Sicht auf die folgenden kurzen Auftritte – und diese vielen sehr individuell aus. Andreas, aufgewachsen in Westberlin, erlebte den Tag des Mauerfalls mit Fieber im Bett. Als er die Bilder vom Einbrechen der „Grenze“ im kleinen Kastenfernseher sah, wurde er von seinen Gefühlen überwältigt. „Ich bin einfach raus und Richtung Grenze gelaufen. Kurze Zeit später habe ich mit Unbekannten in den Armen gelegen und wildfremde Menschen umarmt“, erzählt der Mann. „Ich hatte zufällig einen Stadtplan in meiner Jackentasche, den habe ich dann auch noch einem neuen und alten Mitbürger geschenkt“, schmunzelt der Berliner.
Doch nicht alle waren so hautnah dabei. Eine Frau berichtet, dass sie den Mauerfall kaum mitbekommen hat, da sie zu der Zeit im „tiefsten australischen Hinterland“ unterwegs war. In einer Poststation schließlich, kam ein Angestellter aufgeregt auf sie zu. „Er hat mich gefragt, ob ich aus Deutschland komme und nachdem ich nickte, überschlug sich seine Stimme und er berichtete mir vom Mauerfall. So richtig realisiert habe ich es erst später“, gesteht die Frau. Etwas ganz anderes verbindet ein junger Marokkaner, der schüchtern mit einem Lächeln vor dem Mikro steht, mit dem 9. November. Vor einigen Jahren kam der Mann nach Deutschland. Er hatte ein wenig Geld gespart und hegte den großen Wunsch, in Deutschland studieren zu können. Doch die Realität sah erst einmal anders aus. „Ich bin am Frankfurter Bahnhof angekommen, war ziemlich orientierungslos, kannte keine Menschenseele. Die erste Nacht habe ich in der Bahnhofsmission geschlafen“, erinnert sich der Marokkaner.
Doch nach und nach fand er Anschluss, eine kleine Wohnung und einen Job. „Am 9. November 2015 kam vom deutschen Konsulat aus Marokko die Bestätigung, dass ich hier studieren darf. Und kurze Zeit später wurde meine Bewerbung an der Gießener Justus-Liebig-Universität angenommen. Außerdem habe ich meine Abschlussarbeit am 9. November abgegeben“, resümiert er abschließend freudestrahlend. Herzerwärmend wurde es auch bei der persönlichen Story einer aus dem Gießener Raum stammenden Frau, die am 9. November 1989 mit ihrem Mann auf einer Raststätte auf der Autobahn eine Pause einlegte. Dort trafen sie auf ein ostdeutsches Ehepaar, denen nichts anderes mehr übrig blieb, als in ihrem Auto zu schlafen – und das bei eisiger Kälte.
„Dann haben mein Mann und ich spontan entschieden, die beiden zu uns nach Hause einzuladen“, erklärt die Dame. „Aus einem gemeinsamen Abend wurden dann zwei Wochen mit jeder Menge Spaß und tollen Gesprächen. Ich erinner mich noch genau, wie sich der Mann über unser Obst und vor allem die Bananen gefreut hat, diesen Blick werde ich nie vergessen.“ Turbulent wurde es bei der Geschichte eines Mannes aus Südbaden, besser gesagt, Büsingen am Hochrhein. Das Besondere an dieser Gemeinde: Sie ist der einzige Ort in Deutschland, der in einer Exklave liegt, es gibt praktisch einen deutschen und schweizerischen Ortsteil mit damaliger Grenze. „Ich war mit meinen Jungs Pizza essen, bis ein großer Autokorso durch die Stadt zog. Schnell verbreitete sich die Meldung vom Mauerfall und wir sind dann direkt mitgefahren Richtung Rhein. Dort angekommen haben wir uns die Kleider vom Leib gerissen und wollten über den Rhein vom deutschen Teil in das Gebiet der Schweiz schwimmen, ehe uns zwei Grenzpolizisten aufhalten wollten. Das war natürlich verboten“, lässt der Mann die vielen Besucher im Stadttheater wissen. Was dann folgt, war allerdings nicht abzusehen. „Dann hat sich einer der Grenzbeamten seiner Uniform entledigt mit den Worten: Besondere Tage erfordern besondere Maßnahmen. Er hat uns dann schwimmend auf die deutsche Seite begleitet“, schmunzelt der Badender abschließend.
Jede Erzählung und die damit verknüpfte Erinnerung mit dem 9. November hatte ihren eigenen Charme und begeisterte die Zuhörer mit starken Worten, die auch zum Nachdenken anregen. Etwa als eine Frau nach ihrer Geschichte emotional dafür warb, keine Grenzen aufzubauen und zu festigen, sondern diesen mit Menschlichkeit und Empathie entgegenzutreten. Worte, die wir immer im Gedächtnis behalten sollten.
Felix Müller, 11.11.2019, Gießener Anzeiger