Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters Gießen widmete sich im Stadttheater der Freundschaft dreier großer Musiker / Fragwürdige Unterbrechungen
Ins Herz der deutschen Romantik führte das Sinfoniekonzert des Philharmonischen Orchesters Gießen am Dienstagabend.
Zugleich warf es Fragen nach einer für die Gegenwart angemessenen Darbietungsform rein instrumentaler Musik im Konzertsaal auf. Denn das Programm wurde ergänzt durch Lesungen (in spätbiedermeierlicher Robe würdevoll vorgetragen von Schauspielerin Carolin Weber) aus Briefen der drei Protagonisten des Abends, nämlich Clara Wieck, Robert Schumann und Johannes Brahms – und zwar nicht nur zwischen den Stücken, sondern diese unterbrechend, mitten hinein.
In erster Linie ging es dem klug ausgewählten Programm allerdings um eine Konstellation künstlerischen Handelns dreier Freunde, Ehepartner und Geliebter, deren Schaffen einerseits von der Überzeugung eines unaufhebbaren Zusammenhangs zwischen Kunst und Leben, zugleich andererseits von einer Sonderstellung der Musik als Gegenwelt zu ökonomischen und weltlichen Zwängen geprägt war.
Clara Wiecks Klavierkonzert in a-Moll bildete ein plausibles Zentrum des Abends, denn sie war ja selbst so etwas wie der Mittelpunkt der Freundschaft der drei. Das Konzert ist allerdings ein Frühwerk, zu Beginn der Komposition war sie 15 und die Ehe mit Robert lag noch in der Ferne. Pianist William Youn gestaltete das Stück mit entspannter Souveränität in einem vielfach weichen und beinah verträumtem Anschlag.
Unüberhörbar ist dies das Werk einer Komponistin, die nur kurze Zeit später als weltberühmte Virtuosin gefeiert werden würde: eher ein technisch enorm anspruchsvolles Konzertstück, das zur Not auch ohne Orchester auskommen könnte. Dies ist aber völlig zeittypisch und hat nichts mit „Frauenzimmerarbeit“ zu tun, wie Clara (dann schon verheiratete Schumann) befürchtete. Unverzichtbar ist aber das Solocello, das alleine die Romanze des zweiten Satzes begleitet, sehnsüchtig ausdrucksstark im Dialog mit dem Klavier gestaltet von Attila Hündöl.
Auftakt mit Brahms
Den Auftakt des Abends machten Brahms’ „Haydn-Variationen“, also die Orchestervariationen über einen „Chorale St. Antoni“, von Brahms 1870 im Archiv gefunden und damals (irrtümlich) Haydn zugeschrieben. Das war ein konzentrierter, homogener Anfang, ein bisschen im Widerspruch zum bewegungsreichen Dirigat von Andreas Kowalewitz (zuletzt in Gießen mit „Die Schwätzer“), bei dem man den Eindruck gewann, er wolle noch jeden einzelnen Ton persönlich anschieben. Konzentration und musikalische Spannung wurden dann aber durch die Einpflanzung einer Brieflesung mitten ins Stück abrupt unterbrochen – auch wenn das Orchester wirklich alles tat, um die Lücke danach wieder zusammenzuflicken.
Jenseits der Fragwürdigkeit, dieses Stück mit der Liebesbeziehung zwischen Clara und Johannes arg platt zu identifizieren, sind zwei Punkte wichtiger, die dann auch für den eigentlich bravourösen Abschluss galten, nämlich die zweite Sinfonie von Schumann. Nicht nur gab es nach dem zweiten Satz eine Unterbrechung, sondern sogar mitten im vierten, kurz vor dem Schluss mit seiner Beethoven-Hommage. Die ausgewählten Briefstellen suggerierten eine Art geheimes Programm der Musik und legten so eine ziemlich triviale biographisch-hermeneutische Lesart nahe.
Für Schumann als Musikkritiker war eine solche Haltung musikalisches Philistertum, das er aufs Schärfste kritisierte. Und, fast noch wichtiger: Eine Sinfonie besteht nicht aus separaten Nummern. Genau so aber hat Dirigent Kowalewitz die Musik behandelt. Kann das heutige Publikum sich wirklich nicht mehr ausreichend lange konzentrieren, um musikalische Bögen und Entwicklungen hörend nachzuvollziehen? Immerhin: Ein Zuhörer verließ unter klar artikuliertem (aber ebenfalls nicht konzentrationsförderndem) Protest den Konzertsaal.
Schumann und Brahms hätten es ebenfalls aufs Entschiedenste abgelehnt, ihre Musik zu fragmentieren. Komponiert ist sie als Zusammenhang. Es gehört zu den Leistungen im Konzertsaal, diesen Zusammenhang für die Zuhörer plausibel zu machen. Kowalewitz hat stattdessen kurzatmige Momente hergestellt; für sich nicht ohne Effekt, als Ganzes aber konturlos.
Karsten Mackensen, 30.01.2020, Gießener Anzeiger