Angst breitet sich aus. Ein Bibbern ist zu spüren. Was geschieht hier? Im Tanzstück »Jagen« von Choreografin Olga Labovkina hetzt im taT nicht der Wolf die Meute. Die Meute hetzt sich selbst. Und wird dabei so gierig wie unnachgiebig.
Es geht um Neugier, Panik, Wahnsinn. Drei Tänzerinnen und drei Tänzer geben sich mystisch, tough, verstört. Sind sie auf der Jagd? Oder werden sie gejagt – und von wem? Getrieben blicken die Gestalten umher in ihrem dunklen Bühnenparcours der Angst.
Die weißrussische Choreografin Olga Labovkina, selbst Tänzerin mit internationalem Erfahrungsschatz und zum ersten Mal in Gießen zu Gast, setzt sich im neuen taT-Tanzabend mit den Motiven des Verfolgens und Flüchtens auseinander. »Jagen« heißt die Uraufführung, die, angelehnt an Arthur Millers Drama »Hexenjagd«, im Kleinen Haus des Stadttheaters menschliche Abgründe auf der düsteren Tanzfläche zeigt.
Labovkina reiht Szene an Szene, 14 Bilder sind es am Ende, die sie miteinander verzahnt, eine Geschichte indes erzählt die Choreografin nicht. Ihr Augenmerk liegt auf dem Augenblick. Sie kreiert sehenswerte Elemente, formt delikate Szenen, Traumwandlerisches, ohne dabei ein großes Ganzes zu formen.
Das kühle Bühnenbild und die stimmigen Kostüme dazu stammen von Katharina Andes, die bereits vor zwei Jahren an gleicher Stelle beim Tanzabend »Auftaucher« ein glückliches Händchen bewies, wenn es darum geht, Stimmungen optisch einzufangen. Aus ihrem finsteren Haus, dessen Wände sich bewegen, steigen verängstigte Figuren. Ihre knappen hellen Leibchen sind aus Seide und Leinen genäht. Sie fallen elegant in Form, verkörpern das Kindgerechte ebenso wie Lust und Laster, lassen aber auch Raum zur Interpretation. Am Rücken geschlitzt, steht die Garderobe ebenso für die Flügelchen von Insekten, die nervös umherirren und sich einem Scheinwerfer nähern wie Motten dem Licht.
Die Musik, oder besser: der Sound stammt vom Künstlerkollektiv Dodóma. Das Quartett liefert einen Klangteppich aus Geräuschen und Effekten. Es dauert zehn Minuten, ehe eine erste Melodie auf dem Klavier erklingt. Ansonsten wird viel elektroakustisch geschabt, gekratzt, gekieselt und geblubbert. Cello und Klavier (und auch mal eine E-Gitarre) führen die ineinander verwobenen Nummern, die aus drei Kompositionsblöcken bestehen, in pulsierende, den Tanz untermalende Klangstrukturen.
Labovkina lässt ihr Sextett im Kollektiv straucheln, stachelt es aber auch an und setzt auf eine poetische Performance. Hier sind sechs Individuen auf der Flucht vor sich selbst. Es entstehen fragile Momente, in denen sich die namenlosen Protagonisten unter emotionalem Druck für etwas entscheiden müssen – ob es das Richtige ist? Die Choreografin zeigt soziale Mechanismen, die psychischen Stress auslösen. Alle scheinen gefangen in imaginären Mauern aus Unwahrheiten, Missgunst und Missverstehen – obwohl niemand ein Handy zückt, lassen Facebook und Co. grüßen.
Tänzerisch und mimisch sind Caitlin-Rae Crook, Maria Adriana Dornio und Marine Henry sowie Jeremy Curnier, Sven Krautwurst und Floriado Komino eine Wucht. Das Körperliche überragt den dünnen roten Inhaltsfaden. Der Titel »Jagen« steht rudimentär für eine Vielzahl blitzsauberer Einfälle. Der Pas de deux im Sechsachteltakt von Krautwurst und Curnier in zwei anthrazitfarbenen Lodenmänteln der Größe XXL – wer hat Angst vorm schwarzen Mann? – ist ein Höhepunkt des Abends, ebenso wie das vom Soundgeflecht unterstützte verstörte Kratzen und Klopfen Crooks an der Hausfassade. Dornio zeigt kurz vor Schluss ein Solo, das den Atem stocken lässt mit seiner überwältigenden Körperbeherrschung. Auch wenn die im Programmheft erwähnte »Hexenjagd« von Miller nicht szenisch thematisiert wird, ist »Jagen« ein sehenswertes, ambitioniertes Stück Tanzkunst mit innovativen Bewegungsmustern und herausragenden Akteuren. Tosender Beifall a m Freitag vom Premierenpublikum.
Manfred Merz, 02.12.2019, Gießener Allgemeine Zeitung