Sinfoniekonzert im Stadttheater: Philharmonisches Orchester widmete sich dem polnischen Komponisten Mieczysław Weinberg
Kompositionen von Mieczysław Weinberg (1919 – 1996) gehören zu den wichtigsten musikalischen Wiederentdeckungen der letzten Jahre. Beim Sinfoniekonzert am Dienstag nahm sich nun auch das Philharmonische Orchester Gießen zweier Werke des polnischen Komponisten an, die sich – obgleich fast zur selben Zeit entstanden – stilistisch höchst unterschiedlich darstellten. In Kombination mit Dmitrij Schostakowitschs (1906 – 1975) erster Sinfonie ergab sich eine packende Programmfolge.
Am Pult stand Rubén Dubrovsky – zum wiederholten Male zu Gast in Gießen und dem Publikum somit bestens vertraut. Er stellte sich der Herausforderung, auch jenseits des Plakativen und Vordergründigen der musiksprachlichen Elemente in Weinbergs „Rhapsodie über moldawische Themen“ Feinheiten und Differenzierungen herauszuarbeiten. Denn Weinbergs Komposition, 1949 in Moskau entstanden, gehorcht dem Diktat des sozialistischen Realismus, einer staatlichen Doktrin, die sich wesentlich gegen „westliche“ und vermeintlich „formalistische“ Elemente wandte. In der nach dem sowjetischen Funktionär Andrei Schdanow „Schdanowschtschina“ genannten Zeit einer äußerst repressiven Kulturpolitik suchten Komponisten nach Möglichkeiten einer verständlichen, volksnah-sowjetischen und doch anspruchsvollen Kunstmusik jenseits der westlichen Wege mit ihrer teils radikalen Auflösung der traditionellen Tonalität. Typisch für Weinbergs Stücke der 40er Jahre ist insgesamt die Integration folkloristischer Idiome in einer Klanglichkeit, die zwischen robuster Markantheit und lyrischer Melodiosität changiert.
Solocellist aus Wien
Tendiert die „Rhapsodie“ vielfach eher zum Großspurigen (Dubrovsky beschränkte da seine Rolle auf die des Bändigers), ist das 1948 entstandene und 1956 überarbeitete Cellokonzert ein hoch expressives Werk, das zunehmend seinen verdienten Platz in der Celloliteratur des 20. Jahrhunderts einnimmt. Interpretiert wurde es von Christoph Stradner, dem Solocellisten der Wiener Philharmoniker. Ob es nun an der Komposition liegt oder doch an der Aneignung durch den Solisten – es blieb ein Eindruck von Schwere, manchmal einer gewissen zähen Widerständigkeit der Musik gegen Fluss und Zusammenhang, gegen den großen Bogen. Dabei war schon deutlich, dass Stradner eigentlich das romantische Potential vor allem der ersten beiden Sätze zu akzentuieren suchte – der charakteristische und gleichsam sprechende Beginn etwa betonte das Sangliche in der gequälten Klage. Manches blieb aber buchstabiert, fast etüdenhaft, und nur selten entspannte sich das Ganze, wie etwa in der habaneraartigen Episode im ersten Satz. Selbst das Finale, in seinem musikalischen Witz am stärksten an Schostakowitschs Musik erinnernd, blieb seltsam hölzern – und dann verunglückten auch noch die leisen Schlussklänge.
Schostakowitschs Erstlingssinfonie nimmt viele Elemente auf eine leichte und herrlich unbekümmerte Weise schon vorweg, die dann später immer wieder, auch in der Zeit künstlerischer Repression, in seinen Werken eine Rolle spielen werden und wie sie auch bei seinem Freund Weinberg anklingen. Uraufgeführt 1926 (der Komponist war gerade frisch gebackener Absolvent des Konservatoriums), unterliegt das Stück aber erkennbar noch nicht den späteren ideologischen Regulativen. Die Interpretation Dubrovskys, der hier sichtlich aus sich und auch stärker mit dem Kopf aus der Partitur herauskam, zeigte die Frische und den schier unbändigen Humor dieser so vielschichtigen Musik. Den kammermusikalischen Passagen ließ er Raum zur Entfaltung, die intrikaten Rhythmen und Wechselspiele zwischen den Orchestergruppen gerieten fast immer nahtlos, die hohle Mechanik (unterstützt durch das Klavier) des Scherzos ratterte gnadenlos.
Zum Höhepunkt aber geriet die Steigerung vom dritten Satz mit seinem so ungeheuren langsamen Spannungsaufbau zum Schlusssatz. Was der Appell der Trommel androhte, entfachte das Orchester final in brutaler Wildheit, in einer Gewalttätigkeit, die schon den Duktus mancher späterer Sinfoniesätze von Schostakowitsch vorausnahm, bis hin zur explosiven Schärfe der Schlussakkorde.
Karsten Mackensen, 04.10.2019, Gießener Anzeiger