Berlioz’ Oratorium „L’enfance du Christ“ im Stadttheater: Philharmonisches Orchester schöpft Möglichkeiten der Komposition nicht aus
Im Jahr 1865 berichtet Hector Berlioz in seinen Memoiren rückblickend mit einer gewissen Wehmut, aber vor allem mit Respekt, von der Zuverlässigkeit, der Pünktlichkeit und nicht zuletzt dem technischen Vermögen der deutschen Orchester, die er von dem angeblichen Schlendrian der französischen Orchester seiner Zeit abhebt. Dies, aber auch die Annahme einer größeren Offenheit der deutschen Hörer für die immer wieder ungewohnte Musiksprache des französischen Komponisten, waren die Ursache für eine Ausrichtung seiner Werke auf ein rechtsrheinisches Publikum. Das gilt auch für das Oratorium „L’enfance du Christ“ („Des Heilands Kindheit“, wie es in der Übersetzung von Peter Cornelius heißt), das passend zur Adventszeit vom Philharmonischen Orchester gemeinsam mit Solisten und den vereinten Kräften von Theaterchor, Gießener Konzertverein und Wetzlarer Singakademie im fünften Sinfoniekonzert der Saison zur Aufführung kam. Die Leitung des Abends im Großen Haus des Stadttheaters hatte Chordirektor und stellvertretender GMD Jan Hoffmann.
Das war keine Glanzleistung – Berlioz wäre in seinem Urteil vielleicht wankend geworden. Denn es genügt eben nicht, wenn die Musiker anwesend sind und ihre Noten spielen. Ganz offensichtlich hat vor allem dasOrchester die anspruchsvollen Subtilitäten dieser Komposition unterschätzt, und auch Hoffmann vermochte es nicht, das latent opernhafte Raffinement des sich klassizistisch einfach gebenden Gebildes lebendig werden zu lassen. Die Solisten agierten inhomogen, den Chor mit seinen wenigen Nummern trifft indes keine Schuld – obwohl er vielleicht am Ende des ersten Teils engelhafter geklungen hätte, wäre Hoffmann der Partituranweisung gefolgt, die Sängerinnen hinter der Szene zu platzieren.
Was ist das also eigentlich für eine Musik, die sich so simpel gibt und doch anspruchsvoll gestaltet werden will? Das Oratorium ist ein Spätwerk, das äußerlich wenig mit den Überraschungseffekten und den dramatischen Experimenten und bis ans Hässliche reichenden Instrumentationseskapaden des jüngeren Komponisten zu tun hat. Uraufgeführt wurde die „Trilogie sacrée“ (so die Originalbezeichnung) im Dezember 1854. Berlioz schwebte eine Musik von gleichsam „klassischer“ Einfachheit und Anmut vor; als sein wichtigstes Vorbild nannte er die Reformopern von Christoph Willibald Gluck. An einem Ideal alter Musik orientiert sich unüberhörbar besonders der zweite der drei Teile, die nacheinander den „Traum des Herodes“, „die Flucht nach Ägypten“ und „die Ankunft in Sais“ behandeln. Den Text hat Berlioz, ziemlich frei nach dem Neuen Testament, selber verfasst.
Parodie auf Restauration
Gerade dieser Mittelteil, von äußerster Kürze, zeigt, wie viel „echter“ Berlioz aber hinter der vermeintlich glatten Fassade steckt. Denn erstens behauptet er, dass der Schäferchor „L’adieu des bergers“, ein simpler Strophengesang mit arkadisch reduzierter Orchesterbesetzung, die Keimzelle des ganzen Stücks sei – das ist eine typische Stilisierung des alten Romantikers: Ein musikalischer Zusammenhang besteht nicht. Stattdessen greift Berlioz auf bewährte Techniken der Kombination heterogener Genres zurück. Das Pastorale dieses vom Chor anmutig gestalteten Liedes ging leider im intonationsschwachen Holzbläserklang verloren. Und zweitens ist die einleitende Fuge zu diesem Teil eine Parodie auf die zeitgenössische kirchenmusikalische Restauration: Berlioz gab sie scherzhaft als ein Werk aus dem Jahr 1679 aus. Im Orchester klang das schülermäßig schludrig – wie überhaupt die Streicher an diesem Abend oft unkonzentriert, unsauber und unschön in Erscheinung traten.
Maria und Joseph wurden gesungen von Naroa Intxausti und Grga Peroš, die damit die Ehre des Hauses hochhielten, von warmer Schönheit insbesondere in den Duetten wie etwa in der Szene an der Krippe, „Répands encor ces fleurs“. Akzeptabel gestaltete Clemens Kerschbaumer die Partie des Récitant – sein Timbre ist eng und tendiert ins Meckernde, aber im dritten Teil konnte er im dramatischen Erzählton einen gewissen Glanz entfalten. Daniele Macciantelli als Hérode musste außerhalb seines begrenzten Komfortbereichs unangenehm forcieren.
Einen Höhepunkt aber gab es doch: Unverhofft nämlich sieht Berlioz kurz vor Schluss ein filigranes und kunstvoll-einfaches Trio für Harfe und zwei Flöten vor. Da war sie dann, die schlichte, verspielte Schönheit, die eigentlich das ganze Stück auszeichnet – geht doch.
Karsten Mackensen, 05.12.2019, Gießener Anzeiger