Mitglieder des Philharmonischen Orchesters mit französisch-spanischem Programm im Foyer des Stadttheaters
Und gleich noch einmal trieb das musikalische Leben am Stadttheater Gießen farbenprächtige, lebensfrohe Blüten und Ranken aus. Mit einem gänzlich der französisch-spanischen Tradition der Jahrhundertwende gewidmeten Vormittag fanden jene Lebenszeichen ihre Fortsetzung, mit denen sich die Musikerinnen und Musiker des Philharmonischen Orchesters schon am vergangenen Wochenende aus dem erzwungenen Stillstand wieder ins Bewusstsein ihres Publikums gespielt hatten. Besetzung und Programm führten diesmal in eine zauberhafte, eine mal verspielte, mal verträumte, dann wieder fröhlich auftrumpfende Klangwelt. Das alles verbindende Zentrum bildete die Harfe (Hye-Jin Kang), deren zwischen Pracht und Zerbrechlichkeit oszillierende Farbpalette durch Flöte (Carol Brown) und Bratsche und Geige (Yumiko Noda) Ergänzung fand.
Was die Musikerinnen da aus impressionistischen und neoklassizistischen Gefilden geschickt ausgewählt hatten, das bildete eine Folge von lustvollen Miniaturen, mal elegant, mal verführerisch, mal wild. Was das sublimiert Erotische betrifft, stellte sicherlich das berühmte „Syrinx“ für Flöte solo von Claude Debussy den Höhepunkt des Konzerts dar, ein in der Flöte körperlich greifbar gestalteter Sehnsuchtsgesang des Pan nach der in ein Schilfrohr verwandelten Nymphe Syrinx, den Brown in schier unhörbare Trauer versinken ließ. Ihr Pendant fand diese Charakter-Miniatur in Debussys nicht minder berühmtem „Claire de Lune“ aus der „Suite bergamasque“ – etwas ungewohnt in der Fassung für Harfe, aber in der Wirkung nicht minder zauberhaft als das Original für Klavier.
Eröffnet hatte den Reigen Alphonse Hasselmans’ „La Source“ für Soloharfe, eine gefällige, gleichsam sonnige Komposition mit impressionistischen Zügen – wie überhaupt das ganze Programm wie geschaffen für das Jugendstil-Foyer des Theaters mit seiner verspielt-sinnlichen Anmutung war. Die „Nocturne“ von Marcel Tournier (einem Schüler von Hasselmans) weckte, auch nicht unpassend, mit ihren dunklen, warmen Farben vor allem der Bratsche Sehnsucht nach lauen Sommernächten voller Zärtlichkeit. Jacques Iberts „Deux Interludes“ vereinte die drei Musikerinnen dann in einem Trio mit Geige. Dessen Neoklassizismus führte spätestens im zweiten Satz unüberhörbar in die Klangwelt Spaniens hinein, die auch Iberts „Entr’acte“ dominiert, im Original für Flöte und Gitarre geschrieben und hier natürlich mit Harfe aufgeführt.
Im spanischen Kolorit blieb die Musik dann in der weiteren Folge in Maurice Ravels „Pièce en forme de Habanéra“ (Violine und Harfe) und in Manuel de Fallas „Danza Española“ (Harfe solo). Dieser spanische Tanz, eine Nummer aus de Fallas Oper „La vida breve“, vermittelt dort etwas von der angestrebten Echtheit oder Wahrhaftigkeit, wie sie der „Verismo“ fordert. Jenseits der Bühne zeigt es sich vor allem als ein spannendes und durchaus virtuoses Stück Musik.
Debussy als Höhepunkt
Unbestreitbar den Höhepunkt des Vormittags bildete dann aber schließlich die Sonate für Flöte, Viola und Harfe von Claude Debussy, deren Arabesken noch einmal den naturhaft körperlichen Flötenton der „Syrinx“ aufgreifen, die aber auch ein Zeugnis des Versuchs einer Befreiung von der Bedrückung durch Krankheit und Krieg darstellt: Das Werk gehört zu einer Reihe von Sonaten für verschiedene Besetzungen, die im Kriegsjahr 1915 entstanden. Mit dem Rückgriff auf Rameau und die Formsprache des französischen Barocks verbindet sich eine durchaus nationalistisch intendierte kulturelle Selbstbehauptung. Ihren Ausdruck findet sie in Leichtigkeit und Lebendigkeit. Hier kam, in großer kompositorischer Meisterschaft, noch einmal zusammen, was den ganzen Vormittag atmosphärisch geprägt hat: impressionistischer Klangzauber, neoklassizistische Anspielungen, spanisches Kolorit, sinnlicher Zauber und pure Lebensfreude.
Karsten Mackensen, 23.06.2020, Gießener Anzeiger