Die Bühnenfassung des Romans "Tyll" von Daniel Kehlmann hatte Premiere am Stadttheater Gießen. Dargestellt wird er agil, akrobatisch und voller Witz von David Moorbach in verschiedenen Episoden, die von seiner Kindheit hin zu Begegnungen mit Gelehrten und politischen Akteuren der Frühen Neuzeit reichen.
Komödianten als politische Akteure? Politiker als Narren? Wer könnte das gegenwärtig noch unterscheiden. Die undurchsichtige Gemengelage zwischen satirischer Kritik, ernsthaftem Engagement, zwischen politischer Überzeugung und theatralem Kalkül, zwischen Welt und Bühne, wie sie unsere moderne politische Landschaft auszeichnet, in der Politclowns das Agieren ganzer Staaten bestimmen, und in der echte Komödianten zu Regierungschefs werden - all das sucht seinen Ausdruck im Auftritt des wohl berühmtesten Spaßmachers der deutschen Literatur auf den Brettern des Gießener Stadttheaters. Die Rede ist von Tyll Ulenspiegel. Am Samstag hatte die Bühnenfassung des Romans "Tyll" von Daniel Kehlmann Premiere.
Die dramatische Umsetzung durch Regisseur Mario Portmann reiht sich ein in gleich mehrere aktuelle Adaptionen des 2017 erschienenen Romans an anderen Häusern. Das kann kein Zufall sein. In der Tat ist das dramatische Potenzial des Stoffes unübersehbar, und zwar ganz jenseits des bei Kehlmann bereits bis an die Grenze des Durchsichtigen absichtsvoll angelegten Aktualitätsbezuges. Aber wie kleine Szenen zusammengefügt sind die zahlreichen Episoden auch im Buch schon, dessen Erzähltechnik nicht nur ein vorsätzlich ahistorisches Spiel mit Fakten und ihren Alternativen betreibt, sondern vor allem auch das Theatralische, das Inszenierte der Geschichten in den Vordergrund stellt. Dies gar nicht so sehr in Form von Dialogen (die, wo vorhanden, von Portmann aufgegriffen werden), sondern in Gestalt eines moritatenhaften Berichtsstils. Und nicht zu vergessen: Wer könnte besser die Idee des Theaters verkörpern als Ulenspiegel selbst, der die Welt als Bühne entlarvt, indem er ihr den Spiegel vorhält. Und diese Welt ist eine der Not und des Leidens, denn die eigentlich dem 14. Jahrhundert entstammende Figur wurde in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges versetzt.
Portmann macht kurzerhand die Bühne zur Bühne, indem er sehr geschickt alleine die vorhandene Technik, sozusagen das Habitat des Theaters, als Handlungsraum nutzt. Nur sehr wenige Elemente genügen, um den nackten, gänzlich unverkleideten Bühnenraum mit Leben zu erfüllen: Herabfahrende Bleche, einfache horizontal hängende, vertikal bewegliche Stahlgerüststangen, eine Treppe. Dieses Bühnenbild (Jochen Diederichs), effektvoll unterstützt durch Sounds und Musik (Johannes Kühn), nutzt die Inszenierung in einzelnen Szenen zur Erzeugung einer geradezu beklemmenden Intensität. Ernsthaft (und kaum noch spielerisch) kommt dann Gewalt ins Spiel, akustisch im Gewitter der Beckenschläge, visuell durch gefährliches Auf- und Abwogen der Stahlelemente, textlich durch die Nöte der Schauspieler, hier noch durchzudringen, sich beinahe buchstäblich am Leben zu erhalten. Das gilt für Tylls Nahtoderfahrung im Mühlgraben wie auch für die Erfahrung der letzten großen Feldschlacht des Krieges bei Zusmarshausen.
Karsten Mackensen, 02.09.2019, Gießener Anzeiger